Heiligabend in Vancouver

Es war gegen vier Uhr morgens als ich das erste Mal aufwachte.

Heiliger Abend...

Mit dem Aufwachen kam mir zu Bewußtsein, daß ich nicht in Ivendorf, sondern an der Skytrain Nanaimo wohne. Dass ich nicht hinunter in die Küche wanke, meinen Eltern einmal zunicke und dann schweigend zur Kaffeemaschine wanke, um mit dem ersten Kaffee so richtig wachzuwerden, bevor ich den Weihnachtsbaum schmücke.

Stattdessen wankte ich in meine Küche, machte mir meinen Kaffee und legte mich wieder iin mein Bett, um noch ein kleines bißchen Winnie the Pooh zu hören.

Draussen in der Vancouver-Welt tobte der Schneesturm und der Gedanke NICHT zur Arbeit zu gehen, kam mir in den Sinn.

Aber gestern wurde gesagt:

“Ihr werdet den ganzen Tag bezahlt fürs Auftauchen...”

Gegen sechs rufe ich meine Eltern an und telefoniere mit “Deutschland” und dann mache ich mich auf zum Callcenter.

Sowohl meine Schuhe als auch meine Strümpfe sind klitschnass, als ich dort ankomme. Eine halbe Stunde zu spät, da weder die Skytrain noch die Busse regulär fahren. Da weder die Skytrain noch die Busse den Schneemassen gewachsen sind, die da vom Himmel fallen.

Wo das auf den Strassen gestreute Salz die Sache nicht wirklich besser macht und man unglaublich dankbar ist, wenn man nicht durch Pfützen voll Salzwasser, sondern durch Schneehügel waten kann.


Im Callenter angekommen sitze ich ein wenig dämlich mit meinen Mitarbeitern herum, trinke Kaffee und werde von Denise, der um die fünzigjährigen Quebecoise, darüber aufgeklärt, wie normal es in B.C. ist zu kiffen:

“Also wenn du ne Nummer brauchst. Mein Dealer ist grandios. Wenn mich Freunde besuchen kommen, dann kiffen wir eigentlich immer. Aber ich trinke auch viel Wodka. Ich muß unbedingt noch zum Liqour Store. Aber ich habe jetzt schon zehn Tage nicht mehr gekifft. Kiffst du?”

Ich komme mir albern vor, wenn ich es verneine und so sage ich:

“Ab und an.”

“Das ist gut, ne?”


Zwischendrinnen telefoniere ich noch einmal kurz mit Ivendorf. Nur um zu hören, dass sie alle von dem guten Wein angetrunken sind, dass sie zum Kaffee mein Päckchen geöffnet haben und dass sie mich vermissen.

Ich wische die Tränen aus meinen Augenwinkeln...


Ein einziges Geschenk wäre genug gewesen, denke ich. Ein einziger Brief oder ein Päckchen... Aber die fucking Canadische Post hat es nicht geschafft mir zu rechter Zeit einen Weihnachtsgruß aus der Heimat zukommen zu lassen...

Nichts wartet auf mich heute abend, denke ich und fühle gleichzeitig meine Eiszapffüße schmerzlich...

So ist das halt in der Fremde... Dann werde ich mir jetzt Schuhe kaufen... Richtige Schuhe...


Da wir schon um viertel vor neun gehen können begebe ich mich auf den Weg nach Downtown.

“Im Pacific Center sind jede Menge Schuhläden”, hatte mir Denise gesagt und so gehe ich dorthin und sehe mir die Auswahl an...

Noch immer kann ich mich nicht daran gewöhnen, dass es hier keine Auswahl an Schuhen oder Kleidung gibt und dass ein Schuhladen im Pacific Center durchaus nicht grösser sein muss als die Küche meiner Eltern in Ivendorf...

Ich überblicke die Schuhe und sage

“Nein” in meinem Inneren.


Vielleicht. Nein bestimmt bin ich zu anspruchsvoll.

Gehe kurz in zwei andere Läden, die eine ähnlich minimalistische Auswahl haben.

“Nicht ohne Schuhe nach Hause!”, sage ich mir.

“Nicht ohne Schuhe...”

Und so wate ich durch den Schneesturm, der Downtown in ein einziges Chaos stürzt zu einem der wenigen Schuhläden, die ich dort kenne und lasse mich beraten.


Zunächst muß ich vor dem Verkäufer in Strümpfen hin und herlaufen. Dann werden meine Füße vermessen ... und wie so oft wird mein Akzent nicht als der einer Deutschen erkannt, sondern mir Südafrika unterstellt.

Ob das ein Kompliment ist weiß ich nun wirklich nicht...obwohl die eine Dame im Aquarium meinte: “Das sind hart arbeitende gute Menchen in Südafrika” ...

Nun ja...

Schuhe gekauft und danach im Buchladen hängegeblieben, wo die neue Amy Tan, der neue John le Carre und ein Wayne Johnsson in meinem Rucksack landen...

Wenn kein Päckchen da ist, muß ich mir halt selbst Dinge schenken und natürlich geht es mir damit ein kleines bisschen besser...

In einem über-über-überfüllten Liquorstore wird Gin gekauft und in einem leeren seveneleven Tonic Water.

Mein Rucksack ist prall gefüllt...


Und... JA!

Die Skytrain hat ihren Dienst eingestellt.

Die Schneemassen haben ihren Tribut gefordert

Die Busse fahren noch und ich schaffe es mit dem 135 heraus auf die Höhe meiner Heimat. Immer schön Richtung Osten. Jetzt muss ich es nur noch Richtung Süden schaffen...

“Die Busse fahren nicht.”, sagt eine Dame.

“Ich warte schon zwei Stunden.”, sagt eine andere.

Und zwei junge Leute stehen an der Strasse und versuchen ein Auto für zwei alte Damen anzuhalten, die zitterig am Stock stehen und nnicht wissen, wie sie nach Hause kommen sollen.

“Ach wissen sie.”, sagt der eine junge Mann. “Ich habe nur ein kleines Stückchen weit weg geparkt. Ich werde das Auto holen und dann fahre ich sie nach Hause.”

“Das ist der Geist von Weihnachten.”, sage ich zu ihm und wünsche ihm “Merry Christmas.”


Da die Busse nicht fahren stapfe ich in Richtung Süden. Hier ist Hastings und ich muß zur 29 Strassse. Das ist ewig weit.

Unterwegs sehe ich eingeschneite Bushaltestellen und immer wieder Menschen an diesen warten...

Ein Mädchen kenne ich.

Sie ist Mitte zwanzig und mongoloid.

ch habe sie schon mehfach in dem Bus gesehen. Und nach dem zweiten Mal haben wir uns gegrüsst.

“Wie lange wartest du denn schon?”

“Lange.”

“Sehr lange?”

“Sehr sehr sehr lange.”, sagt sie und schüttelt ihr verfrorenes Gesicht.

“Willst du mitkommen? ich gehe den Weg zu Fuß.”

“Ja.”

Ich bin froh, dass auch ich den “Geist von Weihnachten” leben kann und jemandem helfen kann, aber es wärt nicht lange, denn schon nach einem Block, sagt das Mädchen den Umständen gemäß

“Ich habe keine Lust mehr! Ich gehe nach Hause.”

“Gute Entscheidung!”, sage ich und stapfe weiter.


Da die Vancouveraner Schnee nicht gewohnt sind schippen sie den Schnee nicht weg. Wenigstens erkläre ich es mir auf diese Weise.

Und so muss man sich seinen Weg durch Trampelpfade bahnen.

Links und rechts ist der Schnee hüfthoch und ein drei Fußbreiter schmaler, eiswassergetränkter (weil mit Salz freigemachter) Pfad schlängelt sich durch die ansonsten so hübsch anzusehenden Massen von Schnee.


Meine Balance ist ganz okay. Rein prinzipiell, jedoch nicht mit einem Rucksack voller Bücher, Gin und Schuhen...

Ich stapfe und stapfe Stundenlang vor mich hin.

Ab und an gleiten meine Gedanken nach Ivendorf.

Die sitzen jetzt vor dem Kamin. Sind betrunken. Lesen, schauen DVDs und ich stapfe hier in der Schneewüste einsam und allein vor mich hin.

Erstaunlicherweise kommen keine Tränen.

Erstaunlicherweise ist es ganz okay....

Ändern lässt es sich ja sowieso nicht.


Irgendwann komme ich daheim an.

Entledige mich meiner Schuhe, meiner klitschnassen Hose, dusche heiss und bin völlig fertig, obschon es erst drei Uhr nachmittags ist.


Schon eine Woche vorher hatte ich eine deutsche Kirche ausgemacht.

Gar nicht weit von mir entfernt.

Und sogar protestantisch...

(Wenn man “Vancouver” und “Lutther” googelt kommt die St. Marks Church heraus... Google ist schon eine feine Sache)


Schon ein paar Wochen vorher hatte ich Freunde eingeladen. Zum zwanglosen Zusammenkommen. Einer nach dem anderen sagt mir ab:

“Der Schnee!”


Aber Anna will kommen. Sie wohnt nur zehn Minuten entfernt.

Gleichzeitig ist Anna ein Mensch, der nicht gerne zu Fuß oder in die Kirche geht.

Obwohl sie mir vorher zugesichert hat:

“Klar komme ich mit.”, sagt sie jetzt.

“Naja. Muß das sein. Ich komm schon mit, aber ... der Schnee...”


Ein wirklich guter Grund, denke ich, denn auch ich habe nicht wirklich Lust nach Draussen zu gehen.

Aber ich gehe.

Stapfe an der Skytrain vorbei Richtung Süden.

Gehe Trampelpfade entlang, baue Auswegstrecken, wenn mir vereinzelt Menschen entgegenkommen.

Stapfe rechts in den Viktoria Drive und gehe links in die 18te Avenue. Den Hügel hoch zur Kirche.

Googlemap hat mir gesagt, dass ich zwanzig Minuten benötige.

Ich brauche vierzig und bin trotzdem viel zu früh an der Kirche.

Mit wiederum nassen Schuhen gehe ich noch einmal um den Block, bevor ich dann in die Kirche gehe.


Niemand ist dort.

Nun gut. Eine einzelne Frau um die siebzig mit lächelnden Augen sitzt relativ weit hinten.

Ich freunde mich sogleich mit ihr an. Setze mich zu ihr und erfahre, dass sie Ruth heißt früher einmal in der Forstwirtschaft gearbeitet hat und sich zu Weihnachten eine Digitalkamera geschenkt hat, die jedoch so entsetzliche Fotos macht, dass sie die alte wieder hervorgeholt hat.

Während wir plaudern kommen weitere zehn Menschen in die Kirche.

Einige Gläubige haben es geschafft... Zu guter letzt...


Ruth und ich lächeln uns an, als der Trompeter “Oh du fröhliche” von der Empore trompetet und er die hohen Töne nicht bekommt. Er ist um die sechzehn und da der Chor es nicht geschafft hat durch den Schnee ist der Trompeter der Chor.

Und er gibt sein bestes. Bricht nicht ab, obwohl “Oh du fröhliche” eher recht als schlecht zu Ende gebracht wird.

Die paar Menschen die in der Kirche sitzen applaudieren frenetisch... Angemessen der Umstände...Wir können froh sein den Trompeter bekommen zu haben.


Es ist eine kleine Kirche. Natürlich nicht aus Backstein erbaut und natürlich eher fünfzig Jahre als ein paar Hundert Jahre alt. Es ist warm in der Kirche und nicht zugig.

Und er Pastor kommt aus Thüringen und sieht nett aus.

“Zu Weihnachten kommt man zusammen, um zu singen. Deswegen singen wir auch heute.”, sagt er.

Und demzufolge komme ich doch noch dazu Weihnachtslieder zu trällern.

Ob nun “Oh Tannenbaum” oder “Stille Nacht. Heilige Nacht.”

Zwischen den Liedern die wir singen wird die Weihnachtsgeschichte vorgelesen.

Oder andersherum. Innerhalb der Weihnachtsgeschichte – an dramaturgisch relativ dämlich ausgewählten Stellen – singt die Gemeinde ann “Oh Tannenbaum”

Was für ein Humbug, denke ich und bin nicht wirklich zufrieden.


“Lasst uns beten.”, sagt der Pastor und die Gemeinde steht auf.

Nun gut. Ich stehe auch mit auf und zunächst falte ich sogar meine Hände. Doch nach einiger Zeit finde ich mich in der Position wieder, die mein Vater immer in der Kirche einimmt.

Die Hände an der Bank vor ihm abgestützt.

Auf diese Weise kann man gut zuhören, für wen gebetet wird.


“Wir beten für die im Krieg kämpfenden...

Wir beten für die Armen...

Wir beten für diejenigen, die jemanden schmerzlich vermissen...

und wir beten für uns, dass unsere Familien gesund bleiben...”


Bei dem Satz: “Wir beten für diejenigen, die jemanden schmerzlich vermissen.” treten mir wieder Tränen in die Augen. Sie lauern heute direkt hinter diesen. Wollen nur heraus...

Eine quasi Weihnachtsheulsuse...

Und ich bin nicht christlich, ich bin egoistisch, denn ich denke:

Die beten hier für mich?

Und ich soll für arme Menschen wie mich beten?

Ich vermisse zumindestens – gerade in diesem Moment – mindestens fünf Leute aufs allerschmerzlichste...

Bin hier ... und ...


Der Pastor hält seine Predigt, die sich eher um Kriegsspielzeug dreht und um Christbaumkugeln und die nicht ein einziges Mal erwähnt, dass man als Deutscher nicht in Deutschland ist...Dass die Lieben dort sind und man selbst allein irgendwo anders.

Die Predigt, die mir in keinster Weise Geborgenheit in der Religion gibt...

Die mir nicht sagt: “Hier ist auch eine Art Heimat.”

Vielleicht wollte ich genau das... ein kleines bisschen Heimat hier in Vancouver...

Nix da...Auch hier wird an die Soldaten in Afghanistan gedacht und an die Weltfinanzkrise.

wobei ich ehrlich gestehen muss (und da bin ich wohl wiederum zu egoistisch), dass mich beide grossen Dinge momentan NICHT interessieren...


Vielleicht war das ja zuviel erwartet...

Und eher ernüchtert als zufrieden. Eher verwirrt und noch mehr allein stapfe ich in meine Wohnung zurück.


Unterwegs sammele ich Anna auf und wir stapfen gemeinsam durch den Schnnee. Versuchen

eine Pizza zu bestellen

“Wir liefern nicht aus heute. Wegen des Schnees.”

und machen uns Nudeln.


Wir schnacken und schnacken und trinken Wein...

Dann ist der heilige Abend vorbei....

Gott sei Dank!


1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Liebe Weihnachts-Heulsuse! So ein schöner Text. Voll toll. Würde sich echt gut in einem Buch machen. Was du alles erlebst! Neid!!!
Aber eine Frage bleibt offen! Welche Art Schuhe hast du denn gekauft im PacificCenter und wie lange hat die Auswahl gebraucht? Sind sie wasserabweisend, flach und mit Schnürsenkeln - praktisch eben? Bestimmt, da hast du doch Stil bewiesen. Kleiner Tip für deine im Exil befindlichen Eiszapffüße: Wickel sie in Zeitungspapier und drumrum Paketschnur. Das wärmt wie Sau... Ich hoffe deine Tränen im Augenwinkel sind nicht festgefroren und zwischenzeitlich getrocknet. Deinem Text nach scheint es ja minus 45 Grad zu haben. Brrrr. Kein Wunder, dass du ständig wankst und stapfst. Gut, dass du Winnie the Pooh hast, der wärmt ja von innen. Und Gin hast du ja auch. Prost. Immer rein in den hohlen Kopp. Gluckgluckgluck...

jo