Der vorletzte Tag im Januar

Es ist der Geburtstag meines toten Großvaters )natürlich auch der Tag der Machtergreifung Hilters – diese Gedanken bekomme ich – als Deutsche – nun wirklich nicht aus dem Kopf - und ich wache mit dem Gedanken an Petit Fours auf. Mein kleines feines Ritual. An dem ersten Geburtstag nach seinem Tod in mein Leben integriert. Jedes Jahr wird ein überteuertes, kleines, pinkes oder braunes, minimiertes Schichttortenstück gekauft, um sein Andenken zu ehren.
Wer Diabetes hat und ein erhöhtes Gewicht und dann sagt: “Ich will aber lieber gut leben, als mich zu beschränken!”, der hat es verdient mit Kuchen und nicht mit einem Gang an sein Grab geehrt zu werden.

Tatsächlich fühle ich mich relativ ausgeschlafen an diesem Freitag morgen um vier Uhr dreißig. Am vorherigen Abend bin ich trotz einer neuen Folge von “Damages” mit Glen Close um neun Uhr abends eingeschlafen – wahrscheinlich ist die zweite Staffel einfach nicht wirklich gut – und dankenswerterweise habe ich die Orgie meines Mitbewohners überhört.
Habe ernsthaft nichts gehört. Ich habe geschlafen.

Der leichte Schlaf der erste Monate hat sich in die Vergangenheit verzogen. Jetzt fühle ich mich sicher. Jetzt fühle ich mich nicht bedroht. Jetzt kann ich schlafen. So einfach ist das.

Und trotzdem komme ich bewusst zu spät an diesem Morgen, was diverse Gründe hat...
An diesem Tag will ich nicht hetzen. Will mich in Ruhe fertig machen. Mehr als ein paar Schluck Kaffee trinken, bevor ich zur Skytrain eile, in den Bus Nummer neun flitze und meine
elektronische Stempelkarte pünktlich um drei Minuten vor sechs durch den Schlitz der Maschine, die mich (zugegebenermaßen aus extrem verlängerter Sicht) irgendwie bezahlt, ziehen.

Ich setze mich an meinen Arbeitsplatz, der sich hier “Station” nennt und werfe den Computer an. Keine X-Reaches heute.
X Reaches sind diejenigen Aufträge, die noch bestätigt werden müssen. Wo die Menschen die Lotterietickets gekauft haben noch einmal angeklingelt werden, um zu verifizieren, dass sie tatsächlich und wirklich 1000 Dollar für das Australische Powerball ausgeben wollen.

Und so hole ich mein Skizzenbuch heraus, spitze meinen Bleistift und denke nach.
Das ist etwas, was ich mir bei meinem stupiden Job angewöhnt habe.
Die erste Stunde – die Stunde zwischen sechs und sieben – ist fürs Nachdenken reserviert.

Und so schreibe ich meine Gedanken über die Finanzkrise aufs Papier.
Schreibe, dass ich denke, dass es eine fingierte Krise ist. Schreibe, dass ich glaube, dass die Politik von der Finanzwirtschaft unterworfen werden soll. Zumindestens die Europäische Politik.(die amerikansiche Politik wird ja schon lange von Nichtpolitikern - nämlich von Bankern bestimmt)
Schreibe, dass ich glaube, dass es nur so scheint als hätte die Politik, indem sie die Banken subventioniert und teilweise verstaatlicht, mehr Macht über die Finanzwirtschaft.
Begründe diesen Gedanken damit, dass die simple und Haupt- Eigenschaft des Kapitals ja darin besteht sich vermehren zu wollen.
Wenn also die Politiker mehr Macht über die Banken haben. Mehr Mitspracherecht und mehr Interessen, so haben sie auch gleichzeitig damit die Verantwortung, dass das Geld sich vemehrt und stellen sich den Interessen der Finanzwirtschaft überhaupt nicht mehr in den Weg.
Sehr simple Gedanken und mache mir die Notiz “Das Kapital” von Marx in Gänze lesen zu müssen.

Sage zwischendrinnen kurz: “Good Morning” zu Daniella, die links neben mir sitzt und plaudere mit
Ranko, einem Menschen der die dämlichen Lotterietickets verkaufen muß und der in seinem früheren Leben Literaturprofessor in Serbien war. Er kommt (wie des öfteren in letzter Zeit) an meine Station, um zu fragen, wie meine heutige Befindlichkeit ist.
“Worüber denkst du nach?”, fragt er mit seiner hohen und doch angenehmen Stimme. Mit seinen langen weißen Haaren sieht er ein wenig wie einer der Zauberer aus dem Herren der Ringe aus. Oder wie
Sean Connery in der ersten Szene aus “The Rock”...
Ein wenig Sphärisch... ein wenig aus der Welt ... ein wenig abgehoben und- das ist etwas anders als bei Sean Connery – durch und durch liebenswert.

“Über die Finanzkrise.”, sage ich und schäme mich ein bisschen ob des Themas.
“Nicht über die Liebe?” Er verzieht das Gesicht ein wenig. “Wie schade.”
“Nein. Nicht über die Liebe.”, antworte ich und frage ihn, ob er jemals Marx gelesen hat. Er weicht mir ein wenig aus, erklärt mir jedoch:
“Ich glaube nicht, dass der heutige Kapitalismus noch immer als Kapitalismus zu bezeichnen ist. Ich würde es als Profitismus bezeichnen.”
Ich staune ihn an, kann jedoch nicht genau fassen, was er damit meint.
“Früher ging es einfach darum möglichst viel Geld zu verdienen mit einem Gut, was wir hergestellt haben. Heutzutage wird mit dem Gut Geld Geld gemacht. Ich denke, dass das eine Stufe höher anzusiedeln ist, als schlichter Kapitalismus.”

Dann entschwindet Ranko und mit ihm die Intellektualität... Eine Stunde am Morgen.
Um sieben ist der offizielle Schichtbeginn des Callcenters. Der Raum summt und brummt, wenn 140 Agenten an ihren Stationen sitzen und der ganzen Welt dämliche Lotterietickets für überteuertes Geld aufschwatzen.

Ab und an in den Pausen zehn Minuten geistvolle Unterhaltung.
Aber zwischen den Pausen heisst es das Skript abzulesen und möglichst kleine Lotterieverkäufe anzurufen.
Es kommt auf die Stimme an und ich vermag es nicht wirklich mit meiner Stimme zu lügen...Einer der wesentlichsten Gründe, warum ich für diesen Job absolut ungeeignet bin.
“Sie haben tausend Tickets für das Australische sechs aus neunundvierzig für insgesamt tausendfünfhundert Dollar gekauft.”, kann ich nicht emotionslos vorlesen.
Und dann kommen auch dem Käufer Zweifel und dann sagt der Käufer im Zweifel: “Nee. Doch nicht.”
Also rufe ich die Menschen , die irisches Lotto für acht Pfund Sterling kaufen an. Oder meinetwegen einen Rentner, der ein Jahreslos für das Australische Lotto erwirbt.
Nachvollziehbare Dinge... oder exotische Orte, wie Namibia oder Südafrika oder den Jemen.

Meine Lieblingsstelle im Skript ist:
“Und natürlich muß ich noch versichern, dass Sie verstehen, dass das ein Glücksspiel ist und wir keine Gewinne garantieren dürfen. Das wäre gegen das Gesetz.”
Bevor ich diesen grandiosen Satz auf englisch oder auf deutsch sage, atme ich immer tief ein, lege ein Lächeln über meine Stimme.
“I know Love.”, sagen die zwischen vierzig und fünfzigjährigen Hausfrauen aus England.
“Why not, my Dear?”, fragen die zwischen vierzig und fünzigjährigen englischen Männer.
“Das wäre aber zu schön.”, sagen Deutschlands Rentner mit einem Hauch von Hoffnung in der Stimme.

Um sieben hält der Supervisor immer einen kleinen Monolog. Eine kleine motivierende Ansprache, die in etwa folgenden Inhalt hat:
“Gebt euer bestes. Letzte Woche hatten wir eine grandiose Woche. Diese Woche soll noch besser werden.”
Heute – an diesem Freitag – wird der Monolog ein wenig variiert. Statt:
“Leute wir kriegen das hin.”
tritt
“Leute. Diese Woche war fürchterlich. Das muß besser werden. Tut euer bestes. Ruft eure alten Kunden an. Aktiviert sie für das Lotto. Und wenn ihr merkt, dass ihr nicht in der Lage seid diesen Job zu machen, dann kündigt bitte. Draußen warten jede Menge Menschen, die liebend gerne an eure Stelle treten wollen!”

Betretene Stille.
Und ich frage Stephanie:
“Diese Zeit ist normalerweise relativ flau, ne?”
“Ja.” ist die schlichte Antwort.

Stephanie und Daniella – die zwei Arbeitskolleginnen, die nie mehr als eine einsilbige Antwort auf meine Fragen haben und keine weiteren Erklärungen als die notwendigen liefern.
Die sich in den ersten Minuten meines jetzigen Arbeitslebens eine Meinung von mir gebildet haben und mich nicht für wert erachtet haben, mir ihre Aufmerksamkeit oder was auch immer zu schenken.
Ich bin ihnen (leider nicht im positiven, sondern im negativen Sinne) egal.
Arbeit, Arbeit...
Meine kleinen heruntergeratterten Monologe...
Eine Erweiterung von:
“Treten Sie bitte vor den Greenscreen.”
Immerhin sind es 10 Sätze, die ich jetzt sagen darf...
Aber was wäre man ohne Humor?
Und so lächele ich mit den Kunden über den Spass am Lottospiel und freue mich
schon auf das kleine Petit Fours Stückchen.
vielleicht wird es heute ja sogar ein richtiges Stück Kuchen...
Ja... das wird es...

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