Nach zwei Tagen im Zug komme ich übermüdet in Toronto an. Mit nichts als geringen Erwartungen, Müdigkeit und Hunger im stetig anwachsenden Übergepäck.
Ich bin ungeduscht und die Schulklasse die gegen zwei Uhr nachts den Zug bestiegen hat, hat mich aus meinem wohlvedienten Schlaf gerissen und mich nicht wieder dorthin zurückkehren lassen.
Ich hole mein Gepäck, was wie im Flughafen über ein Fließband an uns vorbeirollt ab und setze mich zunächst einmal vor die Union Station, um eine Zigarette zu rauchen.
Der unvermeidbare Obdachlose schnorrt sich eine Zigarette.
“Wo kommst du her?”, fragt er.
“Vancouver.”, antworte ich. Immer wieder darüber verwirrt woher ich jetzt eigentlich komme. Komme ich aus Deutschland oder komme ich aus Vancouver? Prinzipiell beides denke ich mir. Prinzipiell.
“Cool.”
Wir rauchen eine Minute schweigend. Dann frage ich ihn:
“Weißt du zufällig wie ich ins Global Backpackers komme?”
“Ah. Da willst du hin? Da bin ich letzens auch abgestiegen. Ist eines von den besseren Hosteln. Das ist überhaupt kein Problem. Du nimmst die Straßenbahn ... Und dann gehts du ...Das ist ganz einfach.”
Ich kann ihm nicht folgen. Weiß dass der Fußweg zu weit ist. Weiß, dass ich ein Taxi nehmen werde. Will einfach nur ... duschen.
“Vielleicht nehme ich einfach ein Taxi.”, sage ich dann laut.
“Das kostet nicht viel”, antwortet er.
“Wunderbar.”
“Aber geh auf Nummer Sicher. Ich sage Dir, dass Du dem Taxifahrer genau sagen musst, wohin du willst. Sonst zieht er dich über den Tisch und du bist 30 Dollar los.”
“Oh.”
“Also sag ihm, dass er keinen Umweg fahren soll und direkt die Kingstreet und dann rechts hoch nach Spadina.”
“Okay.”, kann ich nur antworten und freue mich über seine Hilfsbereitschaft.
“Und ich weiß, dass Du kein Geld hast... (Im englischen ist es schöner: I know, that you are travelling on a Budget) ... aber...
Ich schüttele nur mit dem Kopf. Das geht nun wirklich zu weit. Ich gebe ihm kein Geld. Warum jetzt mit etwas anfangen, was ich in Vancouver schon nicht gemacht habe.
Ich sage ihm Adieu. Dem ersten Menschen den ich in Toronto getroffen habe und mache mich dekadenterweise mit einem Taxi auf gen Global Backpackers.
Angekommen wird mir zunächst gesagt, dass man erst um eins einschecken kann und es mit (nach einem groben schielenden Blick gen Uhr) 10 Uhr viel zu früh ist, poche ich auf meine Rechte. Mit einer selbstbewussten Selbstverständlichkeit, die weder Höflichkeit noch langes Herumgerede zulässt.
“Kann ich hier duschen? Jetzt?”
“Kein Problem.”
Ich hätte eine ganze Tirade an Gründen gehabt, warum sie mir unbedingt erlauben müssen zu duschen. Nicht nötig.
Selbstverständlich verstaue ich mein Gepäck im (durch ein geplatztes Waschmaschinenrohr) überflutetem Keller, gehe duschen und danach wie selbstverständlich ins Internet. Ich stelle noch nicht einmal die Frage, ob ich das darf. Ich tue es einfach. Ob das kanadisch ist vermag ich nicht zu beurteilen
Gegen Eins cheque ich in. Ein vierbettzimmer. Das wusste ich vorher. Aber es ist ein Bett ... unten. Die Madratze ich dünn. Ich kann alles fühlen, aber das ist mir egal.
Ich überlege kurz mich hinzulegen, aber verwerfe diese Idee sogleich wieder.
Latent gejetlagt, denn von Vancouver bin ich mittlerweile drei Stunden entfernt, mache ich mich auf in die große Stadt.
“Toronto. It is just a big city.”, wurde mir gesagt. “Du musst nicht in Toronto bleiben.”, wurde mir auch gesagt.
Meine Erwartungen hängen tief. Ich erwarte prinzipiell nichts von dieser Stadt. Will auch nur zwei Tage bleiben. Dann geht es wieder los. Ins richtige Kanada.
Es ist Samstag nachmittag, als ich beginne mich umzusehen, in die Eaton Mall gehe um Batterien für meinen veralteten Photoapperat zu kaufen und mich dann für eine Stunde an den Dundas Square setze.
Ich sehe der vollen Stadt zu. Versuche die Idee zu begreifen. Versuche nach Vancouver, Jasper und Saskatoon das spezifische herauszufinden und bin zunächst einmal relativ schnell an die Wand gestellt.
Das hätte ich nicht erwartet.
Nach der Behäbigkeit Vancouvers , der Entspanntheit in Jasper, der versteckten Agression in Saskatoon trifft mich die Schnelligkeit, die Multikulturalität, die Vibration mitten in meine Frankfurter Seele.
Sicher ist es eine große Stadt. Aber diese Größe hätte ich dann doch nicht erwartet. Und diese amerikanische Grösse. Mit Dreck auf den Strassen, Strassenfluchten, heruntergekommenen Geschäften, die auf einem ganz anderen Niveau heruntergekommen sind als die heruntergekommenen Geschäfte in Vancouver. Mit dem CN Tower einerseits und dem Kensington Market andererseits.
Bin überfordert und glückseelig. Fühle wie frei ich atme. Fühle, dass das Europa ist und fühle mich kleinstädtisch und grossstädtisch gleichzeitig.
Am Abend trinke ich eins, zwei, drei Bier und stelle einigen Leuten die Frage:
“Ich habe einen Tag in Toronto. Was soll ich sehen?”
“Kensington Market, CN Tower, Niagara Falls.” sind die Antworten, doch als ich höre, dass Toronto auch Inseln hat geht mein Herz auf.
“Toronto Islands?”
“Ja. Und das kostet auch nicht viel. Nur sechs Dollar, um rüberzufahren.”
“Okay...”
Ich gehe früh schlafen. Schlafe tatsächlich bis 11 Uhr morgens und als ich aufwache merke ich, dass alle Glieder schmerzen. Aber auch Toronto hat verdient, dass man sich zusammenreisst und der Stadt eine Chance gibt und reisse ich mich zusammen und gebe ihr eine Chance.
Ich gehe geradeaus und dann links. Das ist so in Amerika. Sie nennen es nur nicht geradeaus sondern Süden. Was mich verwirrt, da das Wasser in Vancouver im Norden ist. Oder waren es die Berge. Vermutlich beides. Hach Vancouver...
Ich gebe Toronto eine Chance. Noch immer kein Bild von dieser Stadt, als ich mich an den Fluß setze, eine Hälfte des fusslangen Subwaysandwiches esse und meinen Schock darüber überwinde in einer großen Stadt zu sein.
Unentschlossen, ob ich jetzt die Fähre nehmen soll oder nicht gehe ich ein paar Schritte weiter.
Zwei Jungs sitzen auf einer Bank und trinken Bier. Ich lächele sie an und der eine sagt:
“Hi.”
“Hi.”, antworte ich. Weil man das nunmal so tut. Jedenfalls in British Columbia und in dem Dorf wo ich aufwuchs.
“Willst du auch ein Bier?”
“Hmmm.”
“Willst du einen Schluck Bier?”
“Ach. Warum nicht.”
Ich setze mich zu den beiden und trinke ein paar Schlucke Bier. Sie stellen sich als Nigel und Renee heraus. Renee ist vielleicht zwei Meter gross ist, wie er erklärt halb Ukrainer und halb Schwede. Mit strahlenden blauen Augen und Schalk im Nacken. Nigel sieht ein bisschen aus wie Hugh Grant und gefällt mir. Er gefällt mir tatsächlich. Und es gefällt mir, was er mir erzählt.
“Ich weiss nicht genau, ob ich jetzt einen Monat von der Stütze leben soll.”
Es platzt einfach so aus ihm heraus.
“Ich bin von der Uni abgegangen und meine Eltern wollen mich nicht mehr unterstützen. Das verstehe ich auch. Im Moment habe ich keinen Job. Aber das wird schon.”
Er hat wirklich ein schlechtes Gewissen von der Wohlfahrt zu leben.
“Ich brauche nur den Anfangsscheck.”
Er erklärt mir, dass man 1200 Dollar am Anfang bekommt, um wieder auf die Füße zu kommen. Eigentlich braucht er nur dieses Geld, um die Miete zu bezahlen.
“Und du würdest doch nie wieder von der Wohlfahrt leben wollen, oder?”
“Nein.”, sagt er klar und bestimmt. “Es ist nur das eine Mal.”
“Dann würde ich sagen: Danke meine lieben kanadischen Mitbewohner für die Unterstützung. Ich zahle es euch zurück.”, antworte ich. Und meine es auch so.
Er hat keine Miete, er hat keine Wohnung und er versucht vor sich selbst und der ganzen Welt und nicht zuletzt mir zu rechtfertigen, dass er nur dieses einzige - ganz sicher nur dieses allereinzige Mal – einen Scheck annimmt.
“Solange du das so siehst, finde ich das nicht wirklich ein Problem.”, sage ich und lächele. Er reicht mir das Bier und ich trinke wie selbstverständlich einen weiteren Schluck.
“Du weisst schon, dass das jetzt so ist, als würde wir küssen.”
Ich lache ihn an, ziehe an seiner Schirmmütze und sage:
“Ich bin viel zu alt für dich. Wie alt bist du? Zwanzig?”
Er lacht zurück und sagt: “Ja.”
Und trotzdem.Alles ist ungezwungen und selbstverständlich. Die beiden fühlen sich nicht fremd an. Eher wie alte Freunde.
Nigel erklärt mir, dass er Soundingenieur ist. Oder werden will. Oder es das ist, was er machen will.
“Eigentlich ist es aber nichts weiter als Schritte zu synchronisieren. Das glaubt man kaum. Aber die ganzen Schritte in Filmen, die müssen durch Sounds ersetzt werden. Zuerst nimmst du den einen Charakter, der vielleicht Stöckelschuhe anhat und danach denjenigen mit Turnschuhen. Ich mag den Job.”
Renee erklärt mir, dass er Koch lernt und die Kochschule hasst. Aber was soll er sonst tun.
Ich zucke mit den Achseln und glaube nicht an Alter.
“Was machst du jetzt?”, fragt Renee.
“Ach nichts weiter.”, sage ich.
“Willst du mit rüber kommen? Wir nehmen die nächste Fähre auf die Inseln.
“Warum nicht.”, sage ich und lächele ihnen zu.
“Ich habe auch ne Karte für dich.”, lacht Nigel. “Du musst halt nur so tun als seist du ne Schülerin und 17.”
“Okay.”
Wir drei gehen auf die Fähre. Die Fahrkarten werden nicht wirklich kontrolliert. Ich muss also nicht schwindeln und Renee läuft mit seiner offenen Bierflasche direkt auf die Fähre.Als wir das obligate Tourismus Foto machen, kommt der Kapitän lachend von seiner Kommandobrücke herunter:
“Versteck deine Bierflasche zumindestens unter deiner Jacke, Freundchen.”
Renee lacht nur und erklärt, dass das viel zu oft passiert.
“Eigentlich jedes Mal.”, fügt Nigel hinzu.
Ein ungleiches Gespann, denke ich und finde es nicht wirklich verwunderlich, dass ich mit den beiden Jungs hinüber fahre.
Es ist hellerlichter Tag. Ich kann immer noch die nächste Fähre zurücknehmen und außerdem ist genau das das Gefühl, was ich anscheinend in Toronto gesucht habe... Das B.C. Gefühl. Wo man mit großer Naivität darauf vertraut, dass zum einen alles gut werden wird und zum anderen prinzipiell alle Menschen zunächst einmal nett sind.
Das hätte ich nun nicht von Toronto erwartet. Aber ich wusste ja auch nicht, dass Toronto Inseln hat.
Wir kommen auf den Inseln an und treffen als allererstes Nigels Mutter, der ich erst einmal vorgestellt werde.
“Wir haben uns gerade kennengelernt.”, sagt er.
“Das haben wir tatsächlich.”, sage ich.
Die Mutter sieht uns verwundert an, verabschiedet sich und steigt auf die Fähre mit der wir gerade angekommen sind.
“Sie werden uns dazu zwingen Baseball zu spielen.”, stöhnt Renee als er den Platz in der Mitte sieht, wo ein Spiel mitten im Gange ist.
“Das werden sie.”, sagt Nigel.
Ich sehe mich um und kann mir nicht vorstellen nichts weiter von der Insel zu sehen, als einen Grasplatz wo Ball gespielt wird und beschließe einmal um die Insel zu wandern.
“Man kann sich hier auch bestimmt nicht verirren?”, frage ich Nigel.
“Nein. Du gehst einfach geradeaus und dann immer weiter Einmal rum. Wenn du wieder da bist, dann haben wir auch noch ein Bier für dich..”, antwortet er. Nigel mit seinem Hugh Grant Gesicht und seiner Schirmmütze winkt und lächelt mir zum Abschied zu.
Ich stapfe los und sehe Wasser und den Strand und wenige Leute. bin auf der Seite zum Fluß hin und nicht auf der Seite, wo die große Stadt liegt und habe des öfteren den grandiiosen Satz im Kopf:
“Da gibt es ein Gerücht, dass da hinten eine große Stadt sein soll.”
Bin zeitenthoben und habe das Tofino Freiheitsgefühl.
Und dann passiert das, was mir immer passiert. Ich gehe verloren. Nicht, dass man sich tatsächlich auf einer 5 km langen und 1 km breiten Insel verlaufen kann...Ich schaffe es und vermag es nicht von der einen Insel wieder auf die andere Insel zu gelangen.
Und nach einigen Versuchen und einem netten Gespräch mit einer Familie aus Montreal, die genauso überrascht sind, dass Toronto so hübsch ist, da auch sie mit dem Vorurteil umgehen, dass Toronto nichts zu bieten hat und nichts weiter als eine große Stadt ist, gebe ich auf und nehme die nächste Fähre zurück.
Zurück in die große Stadt. Aber ich weiß, dass es in Toronto Inseln gibt..,und einen Nigel und einen Renee. Wohl eine etwas andere Seite von Toronto. Vielleicht eine Art ... nun ja ... wenn man es denn so nennen will... gallisches Dorf
Nachspiel:
An meinem letzten Abend in Toronto gehe ich im Hostel auf die Terrasse, um eine zu rauchen. Der eine Tisch ist voller Männer mitte zwanzig, die ihre Bierkrüge vor sich haben und laut lachen. Ich schnappe “Toronto Islands” auf und sage zu demjenigen der mir am nächsten ist:
“Es ist so schön dort.”
“Warst du da?”
“Ja. Am Sonntag.”, sage ich und füge hinzu: “Mit Nigel und Renee.”
“Was?”
Er zieht seinen Kumpel an seinem T-Shirt.
“Ey. Sie kennt Nigel und Renee.”
“Ja. Ich habe sie am Sonntag kennengelernt.”
“Ach das warst du am Sonntag?”, fragt mich ein anderer am Tisch.
“Ja. Das war ich am Sonntag.”
“Wir haben da Baseball gespielt.”
“Ich weiß.”, lache ich.
“Hast du schon ein Bier?”, fragt mich ein weiterer.
“Nein.”
“Ich geb dir eins. Weil ...Du bist ne Freundin von Nigel.”
“Ich habe mich verlaufen und konnte nicht Tschüss sagen. Kannst du das bitte Nigel sagen.”
“Klar mache ich.”, lacht er. “Mensch. Das ist ja ein Zufall. Du bist das. Nigel hat soviel von dir erzählt. Er hat gemeint, dass ihr eine Verbindung gehabt hättet.”
“Ja.”, antworte ich. “Das hatten wir.”
Und das hatten wir tatsächich.
Ich freue mich so über die “Islander”, als würde ich alte Freunde treffen und freue mich so sehr, dass ich nun doch noch - zwar über Bande gespielt, aber immerhin – die Möglichkeit habe “Adieu” zu sagen.
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