Zugfahrt mit Claire aus Manitoba

Bei der ersten Gelegenheit die zum Rauchen kommt ergreife ich sie nun tatsächlich. Es ist in der kleinen Stadt Mellville in Sasketchuan, wo ich Claire kennenlerne, die mir innerhalb von einer fünfminütigen Raucherpause einen Großteil ihrer Lebensgeschichte erzählt:

“Hallo. Ich bin Claire.Wer bist du? Ich komme gerade von meiner Schwester aus Edmonton. Wir haben uns schon fünf Jahre nicht mehr gesehen. Und sie hat einen Friseursalon. Also habe ich jetzt wieder gute Haare.”

Und sie wirft ihre lange Haarpracht mit einem gekonnten Schwenker über ihre Schulter und bemerkt kokett:

“Ich bin auch schon 54. Sieht man mir nicht an, ne?”

“Nein.”, versichere ich ihr. Ich mag sie irgendwie. Sie hat nette Augen, die sofort vertrauen und nicht misstrauen und bin fast traurig, dass wir bald aus Mellville aufbrechen muessen. Ich muß aber nicht lange traurig sein. Sobald ich auf meinem Platz sitze, kommt sie auch schon und setzt sich neben mich. Sie atmet tief ein und aus:

“Ich bin so aufgeregt, dass ich jetzt wieder nach Hause fahre. Mein Mann hat das ganze Haus renoviert. Und ich vermisse meine Tochter. Sie ist 18 und ein Engel. Ich sage immer, dass sie mein Engel ist. Weil sie mit einem Herzklappenfehler geboren wurde und trotzdem überlebt hat. Nicht so wie mein Sohn. Den habe ich 9 Monate am Herzen getragen und dann ist er gestorben. Aber ...” sie seufzt. “Aber ich sage mir, dass Gott das so gewollt hat. Weil sonst hätte ich sie ja nicht bekommen. Und sie ist mein Engel.”

Claire kramt in ihrer Handtasche nach ihrem Portemonaie und zeigt mir ihre Tochter. Als wäre sie nicht schon 18, sondern immer noch 2 Jahre alt und ein Toddler.

Sie fragt mich:” Ist sie nicht wunderschön?”

Ich habe nur die Zeit zu nicken, als sie auch schon das Foto und ihre Tochter kommentiert.

Sie zeigt auf die schielenden Augen der 18jährigen und sagt: ”Sie hat ein Problem mit den Augen. Aber das kriegen wir hin. Und ihr Mund ... hier...” Sie umkreist den Mund ihrer Tochter mit ihrem Zeigefinger: “Da müssen wir Weisheitszähne ziehen. Das machen wir, wennn ich wieder da bin. Vielleicht muß ihr der Kiefer gebrochen werden.”

“Oh!”

“Aber ich war vier Wochen nicht da. Und ich vermisse sie so. Ich vermisse auch meine Hunde. Ich liebe Hunde. Fast noch mehr als meine Familie. Ich sage immer. Wenn Menschen nicht nett zu Tieren sind – oder Tiere nicht mögen, dann haben sie es auch nicht verdient auf der Erde zu wandeln. Und ich vermisse Bill. Das ist so ein guter Mann. Wir sind seit 20 Jahren zusammen, aber haben erst vor 11 Jahren geheiratet. Ich habe mir meine Zeit genommen, weil mein erster Mann mich ja mißhandelt hat.”

“Oh.”

“Ja.”

Wir sehen ein wenig in die Weite und ich frage mich, ob wir noch in Sasketchuan sind oder schon in Manitoba. Ich sehe das erste Mal das Nummernschild, wo über den oblgaten Zahlen die Beschreibung der Bevölkerung steht... “Friendly Manitlba.”

Das bekomme ich ja auch gerade von Claire auf dem Silbertablett serviert. Sie ist unglaublich freundlich und aufgeregt und als sie mir erklärt, dass sie mindestens einmal die Woche mit ihrer Tochter zum Essen ausgeht und sie sie wirklch so schrecklich liebt, kommen mir fast die Tränen. Oder nein. Ich steige wieder in den Zug, nicke ihr zu, lade sie nicht ein sich zu mir zu setzen. Das wäre dann doch ein bisschen viel. Denke ich bei mir. Der Monolog hat mich schon nachhaltig erschöpft. Auch weil ich den Manitoba Dialekt nicht wirklich so gut verstehen kann, wie den Vancouver Dialekt.

Ich lege mich ein bisschen hin. Höre die neue Bob Dylan CD und male ein bisschen vor mich hin und dann kommt Claire doch noch einmal... um ihre Lebensgeschichte noch ein bisschen weiter auszubreiten:

“Also mein Mann ist der Bill. Und der Bill ist der Beste den es gibt. Er ist Vorarbeiter in einer Goldmine in Manitoba.”

“Echt? Was macht er denn?”

“Weisst du... diese Kräne, die die Jungs herunterlassen in die Miene. Da ist er Mechaniker. Und er hat 12 Leute unter sich. Die wollen alle, dass er noch mehr Macht bekommt. Die sagen, dass er der beste Mechaniker ist, den die Miene jemals hatte.”

“Oh.”

“Ja. Und sie müssen auch mindestens einmal in der Woche Sicherheitsübungen machen. Früher haben sie Geschenke bekommen, wenn sie eine gewisse Zeit ohne Unfall ausgekommen sind. Heute bekommen sie Geld.”

“Ich habe mal ein Buch gelesen, wo auch Mienenarbeit beschrieben wird und da bekommen sie Whiskey.”

“Oh. Ja. Heute ist es Geld.”

Ich stelle kein weiteres Interesse an meiner Person fest und lege mich nun schlußendlich ganz und gar darauf fest ihr zuzuhören.

Und sie erzählt mir, dass ihr Sohn, der 32 ist – und JA er hatte viele Probleme. Das kann auch daran liegen, dass er mitgekriegt hat, wie sein Vater sie ausgenutzt und abused hat. Da mag was übrig geblieben sein. Und er ist Drogenabhängig gewesen. Aber jetzt war er in einer Klinik und da war er sechs Monate und er war der einzige der das Programm durchgezogen hat. Und jetzt ist er in einem Supermarkt Manager. Und er geht dorthin und verdient Geld. Weil er hatte kein Geld mehr. Und Bill und sie haben darauf bestanden, dass er für seine Zigaretten arbeitet. Sie hätten ihm Geld für Essen gegeben. Aber nicht für Zigaretten.

Sie redet in einem Affenzahn und erzählt mir die persönlichsten Dinge und ich kann nur staunen mit was für einer enormen Kraft und Lebensfreude sie davon erzählt, dass ihre Mutter gestorben sei, aber dass jetzt alles wieder gut ist. Dass sie 11 Geschwister hat. Dass ihr Sohn drogenabhängig war und dass sie Schlaftabletten zum Schlafen nimmt.

Aber ihr fester Glaube an Gott würde alles schon wieder gut machen!


Eine durch und durch einfache Frau, die mich mit ihrer Kraft und ihrem Funkeln in den Augen ansieht und selbstverständlich davon ausgeht, dass ihr Leben das allerbeste Leben ist, was man leben kann.

Und ich kann nur zustimmen.

Als sie mir erzählt, dass ihre Tochter noch immer Jungfrau ist und dass sie ein paar Probleme hatte ihre Tochter bei ihrer besten Freundin übernachten zu lassen, weil die schon seit zwei Jahren mit ihrem Freund Sex hat, ist mir das dann doch ein wenig zu persönlich.

Aufgebracht erzählt sie mir:

“Und die Mutter dieser Freundin hat nichts gesagt. Das Mädchen hat schon mit 13 mit Zungenküssen mit Jungs rumgemacht. Wenn meine Tochter das gemacht hätte, dann hätte ich ihr eins hinter die Ohren gegeben. Aber meine Tochter ist ein Engel. Die würde soetwas nicht machen. Die ist immer noch Jungfrau. Und ich habe ihr gesagt, dass sie – wenn sie Sex haben würde – auf alle Fälle ein Kondom benutzen soll. Ich meine. Als ich das erste Mal Sex hatte war ich 20. Ich hatte nichts dabei. Aber ich hatte das Glück, dass ich nicht schwanger wurde. Naja. Ich habe ihn dann ja auch später geheiratet. Aber sie meint, dass sie damit noch Zeit hätte. Ich habe zu ihr auch gesagt, dass die Frauen, die schon mit 15 mit dem Sex anfangen keine Lust mehr darauf haben wenn sie 40 sind. Ich kenne da jede Menge Exemplare. Und sie meint auch, dass sie damit noch Zeit hätte.”

Dazu kann ich nichts mehr sagen. Ich bin an die Wand geredet und freue mich,dass sie abrupt aufsteht und sagt, dass sie im Speisewagen reserviert hätte und jetzt auch losmüsste.

Ich atme tief ein und aus. Nicke ihr zu und sage: “Guten Appetit”

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