Letzte Atemzüge im Triumph House

Als ich ins Triumph Haus kam habe ich keinen Mietvertrag unterschrieben.
Jocelyn kam auf mich zu und sagte:
“Ich bin hier um die Miete zu kassieren.”
und ich habe ihr die Miete gegeben. Und die Mietkaution. Ich habe mich auf sie verlassen.
Wir haben noch nicht einmal einen Händedruck ausgetauscht.
Nur so etwas wie ein Nicken.
Das war mir nicht genug. Und ich hatte ein ungutes Gefühl.
Aber als ich sie näher kennenlernte war es mir genug.
Auf ihr Wort kann man sich verlassen. Das weiss ich jetzt.

Als ich in das Triumph Haus einzog hat mir Betsy gesagt:
“Das Haus steht zum Verkauf. Es kann sein, dass es nächste Woche verkauft wird. Aber ihr habt auf jeden Fall zwei Monate, um euch eine neue Wohnung zu suchen.”

Als das Triumph Haus verkauft wurde kam Jeremy auf mich zu und sagte:
“Wir haben zwar keinen Mietvertrag unterschrieben, aber uns steht eine Entschaedigung zu.”
“Aha.”, sage ich.
So sage ich auf Deutsch. So sage ich auf Englisch. Immer wieder “Aha.”
“Wir sind dazu berechtigt eine Monatsmiete als Entschädigung zu bekommen.”
“Das haben mir Leute im Aquarium auch gesagt.”, antworte ich und bin unsicher. Doch als Jeremy sagt:
“Das muss der neue Besitzer bezahlen.” zähle ich die Aussagen von den Leuten im Aquarium und die von Jeremy zusammen und maile dem neuen Besitzer.
Ich schreibe ihm von der Compensation, doch er meldet sich nicht.
Ich rufe seine Freundin Emily an, doch sie geht nicht ans Telefon.
Ich schreibe ihnen noch einmal.

Und dann schreibt mir Betsy, dass wir reden müssen und als wir reden wollen hat Jocelyn Geburtstag und wir reden nicht.
Wir versuchen es, als wir Kuchen essen und Jocelyn kurz auf der Toilette ist und ich bemerke, dass Jocelyn nichts von dem ganzen Zeug wissen soll.
“Marianne. Es ist so. Oh da kommt Jocelyn.”
Und ich schalte um, erzaehle etwas von meiner neuen Wohung. Etwas unverfaengliches.
Und dann steht mir Betsy gegenüber.
Direkt hinter ihrem großen dunkelblauen canadischen Auto und drückt mir offizielle Dinge in die Hände.
“Hier. Damit mußt du zum Notar gehen. Wir haben uns nicht abgesichert. Ich habe nicht das Gefühl, dass ich Jeremy etwas schulde. Aber wenn er etwas bekommt, dann bekommst du auch etwas. Das ist nur fair.” Und außerdem hast du mir geholfen. Soviel geholfen.
Ich schlucke und weiß nicht genau, wo ich hingucken soll.
Sie sieht mich an und ich stammele:
“Ich wusste nicht, dass es Deine Sache ist.”
Ich glaube, dass ich das immer wieder sage.
“Ich wusste nicht.”
“Du suchst dir einen Notar und dann lässt Du Dir Deine Unterschrift beglaubigen.”
“Gut.”, sage ich.
Und Betsy stellt klar, dass es so sein muss und nicht anders. Ich muss zum Notar gehen. Und ich muss meine Unterschrift beglaubigen lassen.
Wenn das geschehen ist gibt sie mir einen Scheck.
Und um zu bekräftigen, dass sie mich noch mag nimmt sie mich in den Arm und rauscht von dannen.

Ich bin verwirrt.

Jeremy sagt mir:
“Ein Notar kostet hundert dollar. Wir müssen die hundert Dollar nicht bezahlen. Wir müssen nur jemanden kennen, der uns drei Jahre lang kennt.”
“Du bist seit sechs Monaten in Kanada.”, sage ich.
“Na und.Ich habe Freunde die für mich lügen.”
“Ich gehe zum Notar.”, sage ich und erkundige mich und finde heraus, dass ein Notar nur 29 Dollar plus Steuern kostet.

Und dann kommt die Nachdenkerei und mit ihr die Zweifel and der Unausweichlichkeit des Ganges zum Notar.
Muss ich zum Notar?
Ich will nicht zum Notar.
Und ich überlege.
Betsy hat mir ganz klar gesagt, was Sache ist. Sie hat mir genau gesagt, was ich zu tun habe.

Ich brauche das Geld.
Wenn ich das Geld hätte, dann könnte ich nach Tofino. Dann könnte ich mir einen Wintersturm am Pazifik ansehehen.
Wenn ich das Geld hätte, könnte ich mir eine neue Hose kaufen, die ich dringend benötige, weil ich in den letzten 5 Monaten über 12 Kilo abgenommen habe und nichts mehr passt.
Dann könnte ich miir eine Winterjacke kaufen.
Es ist fast November. Es wird kalt.

Und weil ich arm und hungrig bin in Kanada brauche ich einen ganzen Tag, um mir klar zu werden, dass ich ihr Geld nicht annehmen kann.
Ich könnte ihr nicht mehr in die Augen sehen.
Könnte nicht mehr ihr Angebot:
“Du kannst jederzeit auf meiner Couch in Coquitlam schlafen.” annehmen.
Und schreibe ihr eine Mail.

Dass ich dem neuen Besitzer nichts schulde. Und das ich nicht wusste...
Und schreibe ihr, dass ich das Geld nicht annehmen kann.
Und schreibe es ihr und fühle mich moralisch einwandfrei und noch ein Stückchen ärmer.
Muss an Keano Reeves und Al Pacino und den Auftrag des Teufels denken. Und habe zwar nicht meine Seele verkauft, bin aber alles andere als glücklich darüber.
Moralisch handeln ist nur allzu schwer...

Und Jocelyn wusste nichts davon, was ich ein paar Tage später mitbekomme.

Es ist der letzte Tag im Triumph Haus.
Mit Ivette hatte ich einen Streit, der nicht vermeidbar war.
Am Tag vorher hatte ich das Badezimmer geputzt.
Das getan, was ich über zwei Monate vermieden habe.
Den Dreck hatte ich übersehen. Habe mein moeglichstes getan.
Habe versucht ihn auszublenden.
Die Toilette verdreckt... Obwohl ich es liebe zu baden nur ein oder zweimal im Vorbeigehen die Spinnen in der Badewanne gemustert.
Die wuchernden Pilze an der Dusche nur einmal weggemacht und nicht allzu oft hinter die Toilette geschaut.
Die Küche habe ich geputzt. In der kurzen Zeit der Ruhe als Ivette in England be idem Vater ihres Kindes war und gleichzeitig Open House war.
Und in den zwei Monaten in denen in dort gewohnt habe war ich die Einzige, die geputzt hat.

Den Geschirrspüler ein und ausgeräumt. Das Wohnzimmer gesaugt.
Das Badezimmer habe ich nicht geputzt. Bis auf die Pilze das eine Mal, als sie meinem Auge nicht mehr entweichen wollte.
Das Geld von Betsy ausgeschlagen
und nun die Angst um die Mietkaution.
Als ich meinen Vermieter endlich erreiche und ihm sage, dass ich mit Betsy gesprochen hätte, er also keine Angst mehr zu habe braucht und ich ihn frage:
“Wann kommst du vorbei wegen der Kaution.”
sagt er
“Ich komme am Samstag. Und dann muß auch geputzt sein.”
“Was?!”
Ich schnappe nach Luft und äußere meinen Unmut.
“Jeremy musste nur sein Zimmer putzen und ich bin auf einmal dafür haftbar zu machen, wenn es hier nicht sauber ist? Und ich habe hier nur zwei Monate gewohnt.”
“Ja.”, sagt der neue Besitzer und ich weiß, dass er Recht hat...”Es ist aber so Sitte, dass es geputzt hinterlassen werden muss.”
“Ja.”, sage ich und bin noch nicht einmal höflich, sondern nur kurz angebunden und schrecklich deutsch.
Das kann ich jetzt abrufen wann immer ich will. Das Deutschsein als Waffe benutzen.
Mich nicht mehr damit rechtfertigen, dass ich nichts anders kann, sondern vielmehr mit meinem kleinen Nationalstolz sagen: Ich bin halt Deutsch und ich kann auch anders.

Am Donnerstag haben Ivette und ich zusammengesessen und die billigste Pizza für 12 Dollar geteilt.
Und sie hat mir erklärt, was sie von mir denkt.
“Als ich dich das erste Mal gesehen habe, habe ich gedacht. Da ist diese fragile Person, die auf der Straße nicht überleben würde. Und ich glaube, ich wollte Dich stärker machen.”
auf englisch klingt es besser: “I just wanted to toughen you up!”
“Was?”, frage ich und denke, dass sie keine Ahnung davon hat wie stark ich bin und doch hat sie Recht. Auf der Straße würde ich wahrscheinlich nicht überleben. Da ist sie einen guten Punkt.
Und wir hatten ein gutes Gespräch.
Und es hat mich nicht mehr allzu sehr gestört, dass sie alle zwei Minuten laut rülpste und nur von sich redet und alle Argumente die ich habe mit einem schlichten Kopfschütteln in die vier Wände verstreut.
Und wenn ich sage:
“Aber es hat mich verletzt, wenn ich von Deutschland erzählt habe und du hast nur gesagt: 'Aber jetzt bist du in Canada. Und so ist das in Canada.””
“Du musst deine Vergangenheit vergessen, sonst bringst du es hier zu nichts. Das hat man mir auch gesagt, als ich herkam.”
“Aber ich kann doch Sachen aus Deutschland gut finden und trotzdem Kanada mögen.”
“Wenn du es in Kanada nicht magst, dann kannst du auch wieder zurückgehen. Du bist viel zu nett. In den USA würdest du nicht überleben. Die ziehen dich über den Tisch. Wenn Du mich überlebt hast, dann überlebst du alles.”

Ich möchte ihr sagen, dass nicht alles schwarz und weiss ist und dass ich mich die meisste Zeit in einer Grauszone aufhalte. Dass es für mich nicht einfach ist etwas absolut genial oder beschissen zu finden. Dass ich etwas gut finde, aber immer was zu kritisieren habe... Das ich einfach so bin...

Aber ich sage es nicht.
Sage es ihr nicht, weil ich begreife, dass das alles nur wieder zerstören würde.
Sie ist ein Schwarz/Weiss Mensch und ich ein Grauzonen Mensch.
Diese beiden Sorten von Menschen verstehen sich nicht so leicht.
Ich versuche ihr Sarkasmus zu erklären und sage:
“Wenn ein Professor gemein zu mir ist, kann ich ihn schlecht anschreien, also bin ich sarkastisch. Das ist meine Waffe.”
“Ne Scheiss Waffe. Ich versteh das nicht. Wie kannst du lächeln, wenn es dir beschissen geht?”

Und sie erzählt von ihrer Heimat. Und ich verstehe sie ein wenig besser,..
Immer wieder hat sie mir von ihrer Heimat erzählt und von ihrer Kindheit, was mich dazu veranlasst hat meine Eltern anzurufen und ihnen zu sagen:
“Danke!”
“Meine Grossmutter hat mich im Haus behalten und ich durfte nicht raus. Ich durfte nicht mit den anderen Kindern spielen. Und so sass ich die ganze Zeit am Fenster. Ich durfte nicht raus. Aber ich wusste genau was auf der Strasse abging.
Da war die eine und die war schwanger und ihr Vater hat sie deswegen geschlagen.
Und da war die andere. Die hatte einen Freund und ihr Vater hat sie erwischt als sie sich gekuesst haben.”
Sie sieht mich mit ausdrucksleeren Augen an.
“Das war mein Fernsehen.”
Sie atmet tief ein und aus.
“Und dann fingen die Kinder an zu verschwinden. Und ich hoerte. Die sind jetzt in Europa oder in den USA. Und dann war ich 15 und dann kam ich nach Kanada. Und alles war anders. Und alles war gross und ich konnte kein Englisch.
Und alle alle haben auf mir herumgehakt.
Ich musste stark werden. Ich musste abhaerten. Und ich habe es geschafft.”
Ich sehe sie an.
Sie ist 28, hat keinen Job, keinen Mann, wohnt bei ihrer Pflegemutter und doch:
Sie hat Recht. Sie hat es geschafft.
Und es ist nicht arrogant, wenn ich sage, dass sie mich nicht verstehen kann. Ess ist eine Tatsache. Sie kann es nicht. Und es war und ist an mir sie zu verstehen ...
Meine Mitbewohnerin.
Es war ein gutes Gespräch, aber der nächste Tag kommt und mit ihm der unvermeidbare Streit.

Es ist Freitag.
Am Samstag wird der neue Besitzer kommen und das Wohnzimmer sieht aus wie ... nunja... es ist nichts geputzt, es ist nichts zusammengeräumt und die eine Schwester die kam hat nur das Essen mitgenommen aber nicht die Küchenschränke geputzt.
Es ist Freitag und der Tag an dem Ivette bewusst wird, dass sie auszieht.
Sie hat bereits am frühen Morgen schlechte Laune.

Ich sitze draussen und trinke meinen ersten Kaffee des Tages.
Der Kaffee, der mir dazu verhilft zu stehen und zu gehen und ab und an zu lächeln.
Der Racoon der in letzter Zeit um das Haus schleicht hat den Müll durchwühlt und als Ivette aus dem Haus kommt und den Dreck sieht raunzt sie mich an:
“Du hättest das auch wegmachen können.”
Ich sage nichts und schaue ihr dabei zu, wie sie die zwei drei Handgriffe erledigt und das Papier vom Boden kratzt.
“Und du sitzt da und hilfst mir noch nicht mal.”
“Hey.”, antworte ich und merke, dass das gute Gespräch von gestern im Gestern geblieben ist und nicht einmal einen Tag überlebt hat.
Sie geht hinein, schlägt die Tür hinter sich zu und ich trinke weiter meinen Kaffee...Ohne den ginge jetzt erst recht nichts mehr.
Nach zehn Minuten komme ich in die Basement Suite, gehe zu ihr und sage:
“Was soll ich tun?”
“Nichts.”
“Morgen kommt der Vermieter und das Wohnzimmer sieht fürchterlich aus.”
“Da kann ich nichts dran ändern.”
“Aber es muß geputzt werden.”
“Aber fass meine Sachen nicht an.”
“Ich will meine Kaution wieder haben.”
“Ja ja ja. Du könntest die Küchenschränke putzen. Die sind schon seit gestern leer. Benutz doch mal deinen gesunden Menschenverstand (auch relativ unübersetzbar: commen sense)”
“Okay.”
Und sie bekommt Tränen in die Augen und schreit mich an.
“Du siehst einfach nicht in was für einer Situation ich mich befinde. Ich muss aus dem Haus raus, in dem ich 12 Jahre gewohnt habe.”
“Doch das sehe ich...”
“Du verstehst nicht...”
“Ich verstehe, dass es Dir beschissen geht, aber das ändert leider nichts an der Tatsache, dass jetzt geputzt werden muss.”

Ich versuche autoritaer zu sein, bin aber keine Autorität bin, weil ich einfach noch nicht lange genug in Kanada bin und sie aus diesem Grund keinerlei Verpflichtung dazu fühlt mich ernstzunehmen, schreit sie noch ein bisschen weiter.
Nach zehn Minuten bin ich mit den Küchenschränken – von denen nur die Hälfte (in denen naemlich Essen war) ausgeräumt ist – fertig und schaue mich um.
Versuche einen Plan zu machen und weiß genau, dass ich es nicht vermeiden kann ihre Sachen anzufassen.
Versuche mit “Common Sense” einen Plan zu erstellen, wie ich dieses dämliche Zimmer putzen kann.

Alle Schränke auszuräumen und sie auf unterschiedliche Haufen zu legen erscheint mir das Sinnvollste und so tue ich genau das.
Wieder einmal vermeide ich es ihr in die Augen zu sehen.
Nicht noch einmal ein Streit...

Und an dieser Stelle führen die Fäden zusammen.
Betsy und der Notar.
Jocelyn nicht wissend.
Ivette nicht über die Möglichkeit in Grauzonen zu denken verfuegend.
Und ich bin mitttendrinnen...
Tue nichts weiter als aufzuräumen und zu putzen...

Betsy kommt, um etwas abzuholen.
Ihre Dinge aus dem sinkenden Schiff zu holen und verschwindet mit Ivette im
Laundry Raum.
Und mit Gary, der dabei ist um Dinge zu schleppen. Ihr Hab und Gut. Zu retten was zu retten ist.
Betsy redet mit Ivette, die von mir und Jeremy schon weiß, dass ihr Geld zusteht.
Und meiner Ansicht nach steht ihr auch eine Entschädigung zu.
Sie hat zwölf Jahre in dem Haus gewohnt, ist im siebten Monat schwanger und braucht jeden Cent.

Ich komme aus Deutschland und habe schon aus diesem Grund keinerlei Autorität. Sie hat mich nicht um Rat gefragt. Weiss aber irgendwie doch, dass ich Betsys Geld nicht genommen habe.
Das habe ich ihr erzaehlt, aber sie hat nicht mit mir darüber diskutiert.
Sie nimmt mich nicht für voll... oder hat
Angst vor mir. Oder fühlt sich von mir angeschissen.
fühlt, dass ich arrogant bin.
Betsy verschwindet, fragt mich noch:
“Warum putzt du?”
“Es macht sonst niemand!”
und Ivette hat nun einen Scheck und verschwindet nach oben zu Jocelyn.

Als ich kurz nach draußen gehe und eine rauche
Ihöre ich aus dem obersten Stock:
“Aber von allen Menschen: DU!”
höre
“Du weisst doch Männer sind Schweine”
höre Ivette schreien und höre Jocelyn schreien.
“Aber sie hat mir das gegeben. Und das waren Dokumente von einem Anwalt.”

Und denke nur pragmatisch:
Jetzt weiss Jocelyn es.
Und verstehe nicht warum Betsy es Jocelyn
nicht vorher gesagt hat.
Sie wusste doch, dass es rauskommen muss, wenn Ivette etwas unterschreibt...
und verstehe das nicht wirklich...
und kehre zurück zu meiner Putzerei.

Ivette würdigt mich keines Blickes. Sie geht an mir vorbei in ihr Zimmer. Würdigt die Berge von Zeugs mit einem Blick.
Mit dem Blick eines geschlagenen Hundes.
Sie wusste nicht, dass es falsch war.
Sie von allen wusste am allerwenigsten was Sache war.

Mir ist das alles zuviel.
Ich zähle die Stunden. Zähle die Sekunden. Zähle die Minuten.
Bis ich hier heraus bin.
Aus dem Irrenhaus.
Es ist mir alles zuviel.

Putze immer weiter, bis nichts mehr zu putzen ist. Jedenfalls nichts, was in meinem Machtbereich steht.
Und sitze draussen und Ivette fragt mich:
“du wolltest doch Trick or Treating gehen, oder?”
Ihr kleine Nichte ist da.
Eine siebenjährige Fee stolpert in ihren undamenhaften Gummistiefeln vor uns her.
Ivette, die Mutter der Fee, der Hund und ich.

Ich spüre, dass der Hund lieber mit mir gehen möchte. Wann immer ich einen freien Tag hatte, bin ich mit ihm gegangen.
Wann ist Ivette schon mal mit ihm spazieren gegangen. Sie nimmt das Auto und laesst den Hund hinten hineinspringen.
Nicht einmal in den letzten fünf Monaten...
Aber... ich sage nichts und halte die Klappe.
Finde es auch nicht besonders lustig ihm einen Ballon an sein Halsband zu binden.
Aber ich sage nichts und halte die Klappe.
Der Hund und sie und das was ich fuehle ist: Er ist mehr mein Hund als Deiner.
Aber es steht mir nicht zu. Und ich halte die Klappe.
Die Erwachsenen bleiben draußen stehen, während mir ganz mulmig wird, als die Kleine ganz allein und unglaublich mutig zu fremden Türen stapft und laut
“Trick or Treat!” in freundliche Gesichter und mit Händen voller Bonbons schreit.

Man klopft nur an Häusern die Halloweenig erleuchtet sind.
Ich sehe Spinnen und Hexen. Sehe verkleidete Menschen, die aussehen wie Werwölfe.
Sehe Kürbisse und bin erschöpft von der Putzerei.
Nicht mehr.
Einmal wieder erschöpft von Kämferei.
Erschöpft von Problemen, die alle viel essentieller sind als meine Probleme.

“Kann ich eine Zigarette haben?”, fragt die Fosterschwester von Ivette. Die Mutter der kleinen Fee.
“Klar.”
“Ich sollte eigentlich nicht rauchen.”
“Ach?”
“Ich bin schwanger.”
“Ach...”
Tausend Gedanken fliegen in mir herum. Kann sie nicht fassen. Will nicht bewerten. Will nicht mit irgendeiner Richtschnur an sie herangehen.

“Ich will das Kind. Aber mit meinem Freund ist es gerade nicht so gut. Er hat mich geschlagen.”
Sie ist 25. Hat eine siebenjährige Tochter. Keine Ausbildung. Ihre Beziehung geht in die Brüche. Sie verdient kein Geld. Aber sie sagt:
“Ich ernähre mich ansonsten gesund.”
Se sagt:
“Ich will das Kind. Ich habe schon einen Namen für das Kind. Dann kann man es nicht abtreiben.”

Sehe, dass sie nicht glücklich ist und sehe, dass sie nicht mehr weiter weiss und gehe nach dem Halloweenumzug nicht nach oben.
Es gibt zwischen Jocelyn und mir nichts zu sagen...
Ich halte nicht viel davon eine schwangere Frau, die keine Ahnung hat was Betsy von ihr wollte, zwei stunden anzuschreien, wenn der neue Besitzer am nächsten Tag eine geputzte Wohnung erwartet.
Es gibt keinen Grund sie in Grund und Boden zu schreien.

Ich gehe nicht nach oben...
ich gehe zur Esso Tankstelle.

“Zwei Viceroy Blau.”, sage ich. Und wundere mich einmal mehr, dass man einerseits die Zigaretten in Kanada verstecken muss, andererseits es jedoch erlaubt ist, dass Zigaretten im Doppelpack wesentlich weniger kosten.
Und nehme Abschied von der Tankstelle.

Ich gehe zu Subway und kaufe mir ein Sandwich, weil ich den ganzen Tag nur zwei Bananen gessen und ansonsten geputzt habe.
ein Mann mit einer Todesmaske kommt herein und der asiatische Subwaymensch stösst einen kleinen erschreckten Schrrei aus und versichert mir :”Ich dachte, der wollte mich ueberfallen.”

Ich gehe in den Liqour Store und kaufe eine Flasche Wein und sehe die beiden Verkäuferinnen in langen schwarzen Gewändern.
“Es ist keine Pflicht sich zu verkleiden, aber es bringt Spass.”
ich gehe nach Hause. Das letzte Mal diesen Weg und rieche den Dunst von geknallten Feuerwerkskörpern. Und denke, dass niemand mir gesagt hat, dass Halloween auch immer ein Riesenfeuerwerk bedeutet.

Ich sitze vor dem Haus und höre Raketen beim Aufsteigen zu, beim Sterben – wenn man wieder einmal ramatisch werden will.
Und trinke meinen Merlot und denke nach.
Jocelyn kommt herunter.

“Wie gehts dir?”
“Ahem..”
“Ahem?”
“Aha.”
“Aha.”
“Ich suche meine Bettdecke.”
“Die Kleine schläft drunter.”
“Die Mutter der Kleinen schläft auf meiner Couch.”

Und ich hätte ihr eine Decke geben können, wenn sie mich gefragt hätte. Aber sie hat nicht gefragt, sondern hat aus der Basementsuite einen dreckigen Couchbezug geholt. Der Couchbezug vor dem ich mich so geekelt habe, dass ich ungern darauf gesesseen habe.
Der mit den Katzen und Hundehaaren.
Und rauscht mit dem Bezug nach oben.

Ich trinke weiter, sehe ab und an Ivette wie sie etwas kleines von den Haufen ihrer Sachen nimmt und dann wieder in ihr Zimmer geht.
Es ist ein ruehrendes Bild ihr dabei zuzusehen. Und das Bild ist der einer alten Frau und nicht der einer jungen, schwangeren.
sie packt sehr langsam....

Und trinke meinen Wein und nun sage ich Adieu zum Triumph Haus.
Höre die Feuer in der Ferne heulen und habe mitnichten Lust nach oben zu gehen...
habe keine Lust zu Jocelyn “Adieu” zu sagen.
Und deswegen mache ich es auch nicht.
Betrunken lege ich mich das letzte Mal in mein Bett und schlafe relativ schnell ein.

Am nächsten Morgen wache ich in derselben Chaotik auf, in der ich eingeschlafen bin und kann mir nicht anders helfen, als mir zu sagen: “Es ist der letzte Tag. Keine Zeit, um sentimental zu werden.” und ich werde nicht sentimental.
Stattdessen putze ich weiter...

Ivette geht es besser. Sie sieht mich tatsächlich an. Mit einem enigermaßen netten Blick und sagt:
“Gestern war nicht wirklich mein Tag.”
“Nein.”
“Jocelyn und ich hatten den schlimmsten Streit überhaupt.”
“Ja. Ich habe es gehört.”
“Aber ich verstehe es immer noch nicht.”
“Was?”
“Ich verstehe nicht, wie eine Sache zweierlei bedeuten kann. Wie kann eine Sache moralisch schlecht sein und vor dem Gesetz richtig?”
Und sie erklärt mir in ihren Worten wie die Dinge stehen und sie schaut mich verwirrt an.
“Ich verstehe das einfach nicht. Und dann brüllt Jocelyn mich an... Aber naja. Das Geld habe ich ja auf jeden Fall.”
“Was?”
“Naja. Jocelyn hat mir den Scheck weggenommen, aber sie hat mir anderes Geld gegeben.”

Ich sage leise:
“Sie hat mit Betsy geredet.”
“Nein. Das stand schon vorher fest.”
Und sie guckt mich traurig an.
“Die machen das so.Ich habe sie gefragt: Wenn ich das Geld sowieso bekomme... Warum machst du dann so einen Aufstand? Und sie hat gesagt: Damit du was lernst.”
“Echt?”
“Ja. Die machen das so. Die bringen mir was auf die harte Art bei. Die sind auch körperlich geworden.”
Ihr Horizont reicht nicht weit. Und was bei ihr ankommt ist nicht viel.
Wenn ich es schwierig finde zu entscheiden was ich tue. Und JA das ist wieder einmal arrogant, dann ist es für sie noch viel viel schwerer.
Und sie versteht die Welt nicht mehr.
Und ich weiß nicht auf wenn ich mehr sauer sein soll.
Auf Betsy, weil sie nicht vorher mit Jocelyn geredet hat oder auf Jocelyn, die ihre Launen an einer zwar schwierigen aber sehr netten Ivette auslässt und sich dann damit herausredet, dass sie ihr etwas beibringen wollte.

Aber ich komme nicht dazu mich zu ärgern.
Denn die Kleine Fee und ihre Mutter kommen von einem Tv Casting zurück.
“Wenn sie sie wollen, dann muss sie morgen noch einmal vorsprechen. Und sie muß das hier auswendig lernen.”, sagt die 24jährige und zum zweiten Mal schwangere.
“Ohhh. I overslept. I want my Kellog Cornpops. They are so good and sweet.
I just wanna have my pops.” lese ich und schüttele mit dem Kopf.
Ivette reißt die Aufgabe an sich heran. Das folgende kann man nicht übersetzen. Das folgende muß man auf Englisch belassen und ich hoffe sehr, dass man es verstehen kann:

“So.”, sagt Ivette und setzt eine ernste Miene auf. “First you read it out loud.”
Die Kleine liest den unsinnigen Werbespot vor.
“Now. Go to your room and memmorise it.”
Die Kleine hat ein Casting hinter sich. Sie ist hungrig. Sie ist aufgeregt. Sie ist zappelig. Das merkt auch Ivette.
“So. Run five times around the couch!”, sagt Ivette und ich sehe sie staunend an.
Die Kleine rennt.
“Are you now able to memmorise?”
Ganz ausser Atem setzt sich die kleine auf die Couch und sieht sich den Zettel an. Sie liest es noch einmal laut vor. Dann kichert sich und wirft den Zettel ganz weit weg von sich.
“Do you really want to do this?”, fragt Ivette. Und man sieht ihr an, dass SIE es einfach nicht gut findet, dass das Kind in eine Agentur aufgenommen wird.
“If you don't wanna do this... You just have to tell that to your Mom.”
“I want to do this.”
“Then start learn!”, sagt Ivette und ich muß mich zusammenreissen nichts zu sagen. Stehe am Küchenbord und starre die beiden an. Und kann nicht mehr anders. Ich sage:
“Soll ich dir helfen?”
“Ja.”, sagt die Kleine und kommt ganz dicht an mich heran.
“Also. Was bedeutet das am Anfang.”
“I overslept.”
“Genau. Und was ist das erste was du hast, wenn Du verschlafen hast?”
“Hunger.”, sagt die Kleine und ich denke. Wir sind auf dem richtigen Weg.
Aber Ivette unterbricht mich.
“First she has to memorize it. Then we can put Emotions to it.”
Mir wird kalt. Eine Gänsehaut breitet sich aus.
“She has no Idea what that means. To put Emotions to it. Look at her.”, sagt Ivette kalt
Und ich schaue die kleine an und sie tut mir leid. Ganz unglaublich leid.
Wie sie da sitzt und lächelt.
Trotz allem lächelt.
Aber sie muß nicht mehr weiter auswendig lernen.
Ihre Mutter kommt zurück. Von oben, wo sie ihre Nägel perfektioniert hat, denn wenn das Kind zu nem Casting geht, dann hat auch die Mutter gut auszusehen.
So simpel ist es. So einfach ist manches.

“Die fanden sie gut. Und das gute ist, dass sie so gut lesen kann.”
“Ja.” sage ich.
Und ich habe bemerkt, dass die Kleine immer ein Buch dabei hat. Und eigenständig liest. Und gerne liest. Und sie hat mir erzählt, dass sie einen Geist hat, der ein Löwe ist. Den aber keiner sieht.
“Ich habe zur Zeit überhaupt kein Geld.”, sagt die Mutter der Kleinen und sieht mich an.
Ich weiss wie das ist. Ich hatte auch eine Woche nicht genug zu essen.
Nun weiß ich, wie sich das anfühlt. Zumindestens ein wenig. Ich habe keine Ahnung wie es sich anfühlt, wenn man schwanger ist, eine kleine Tochter hat UND kein Geld hat.
Das kann ich mir nicht vorstellen... Wie man in der sechsten Woche sein kann, keinen Plan und dann das Kind auf die Welt bringen will... Aber wer bin ich schon. Was kann ich schon sagen...

“Ich hoffe Jocelyn hat genug Geld. Dann könnte ich den Daycare Platz bezahlen. Wenn ich den ncht bekomme kann ich mir keinen neuen Job suchen. Und ich brauche einen neuen Job, damit ich dann Unterstützung bekomme, wenn ich das Kind bekomme.”
“Wow.”, sage ich.
“Aber im Moment habe ich überhaupt gar kein Geld. Und ich will von meinem Freund kein Geld mehr nehmen. Er hat mich geschlagen. Das ist vorbei.”
“Ja.”
“Er hat mich die letzten Monate unterstützt.”
“OH.”
“Ja. Und nun habe ich keinen Job mehr. Und ich hoffe, dass Jocelyn mir das Geld leihen kann.”

Während der Unterhaltung habe ich die Worte von Ivette im Ohr
“Silvanna ist es gewöhnt viel Geld zu haben. Sie ist durch ganz Kanada gezogen und hat für Geld mit Männern geschlafen. Sie hatte soviel Geld. Und nun hat sie kein Geld mehr...”
Und ich schaue mir die ex prostituierte genauer an.
Die kein Geld zum Essen hat. Die eine kleine siebenjährige zum Kindercasting schleppt und die schwanger ist von einem Typen der sie schlägt.
Und es sind alles Klisches, die ich mir nicht ausdenken wollen würde.
Sie stoßen mir zu.
Sie passieren.
Und Silvanna sieht hübsch aus. Und unruhig und sagt:
“Gibst du mir noch eine Zigarette. Ich kann noch nicht aufhhören. Und ansonsten ernähre ich mich gesund.”
Und ich gebe ihr eine Zigarette.

Und wir gehen zurück in die Basementsuite und ich sehe Ivette und die kleine Fee immer noch üben.
Und Ivette sagt:
“Wo warst du?”
“Rauchen.”
“Du doofe Kuh. Zieh doch wieder hier in die Nähe. Wir könnten zusammenwohnen.”

Die eine schwanger von nem Freund der sie schlägt. Die andere schwanger von einem englischen Maurer.
Und die Kleine mittendrinn.
“Ich will sie nicht aus der Schule nehmen.” sagt Silvanna. “Das ist nicht gut für Kinder. Sie braucht Stabilität.” und sie guckt mich bestätigungssuchend an. Und ich nicke.
“Hast du sie schonmal gefragt was SIE will?”. fragt Ivette offensiv und fragt dann die kleine Fee: “Was willst du?”
Und ich bekomme Tränen in die Augen, als die Kleine sagt:
“Mir macht es nicht aus umzuziehen. Mir macht es nichts aus in eine andere Schule zu gehen. Ich will nur nicht auf der Straße leben.”
bei dem Satz
“I don't want to live on the Streets.”. wobei das kleine Wörtchen Streets langgezogen ist und wie eine Frage ausgesprochen wird, kommen mir die Tränen und ich streichele ihr über
das Köpfchen.
“Sweetie. You don't have to live on the Streets.”
Aber Tatsache ist, dass ich es nicht weiss.

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Oooooooooooh jehhhhhhhhhhh! Aber sonst ist bei dieser Ivette und überhaupt alles klar...Was für ein blöder Zickenscheiß...mir ist ganz schlecht...und mir bleibt nur zu sagen: Es will mer net in de Kopp 'enei, wie kann nur e' Mensch net von Frankfort sei!
Savoir Vivre
jörg