Ich habe seit einer Woche nicht mehr richtig gegessen und ich kann sagen, dass ich in den vier Monaten, die ich in Kanda bin vielleicht eine Handvoll richtige Mahlzeiten hatte. Unter richtig essen verstehe ich mittlerweile nicht so etwas wie warme und kalte Mahlzeiten, sondern Mahlzeiten.
Kein Geld für Brot und deshalb tagsüber einen Müsliriegel und einen Apfel, bevor ich am Abend hungrig meine Spaghetti mit Tomatenpesto zu mir nehme.
Als ich dann die Einladung von Jocelyn bekomme:
“Willst du zum Thanksgivingdinner kommen?”, sage ich nur.
“Ja.” und denke “Food.”
Ich denke nicht an eine Feier, sondern tatsächlich nur an das Essen.
Am Morgen verschwinde ich ins Aquarium und strahle vor mich hin.
Heute gibt es richtiges Essen. Einen richtigen Truthan. Richtige Kartoffeln. Richtiges Essen.
“Ah. Ihr habt das Thanksgivingdinner heute?”
“Ja.”
Zwanzig Leute sind eingeladen und ich gehe nach der Arbeit, obwohl ich es schrecklich finde, nach oben zu Jocelyn und werde Essen. Es wird Essen geben,
Richtiges Essen.
Von meineem letzten Geld habe ich mir Äpfel gekauft.
Und so esse ich in der Mittagspause einen Apfel.
Carla sieht mich an und sagt:
“Ist das Dein Mittag?”
“Ja.”
“Ich werde mir wohl Pommes kaufen.”, sagt sie. “Das ist das billigste.”
“Ja.”, sage ich und beisse wieder in meinen Apfel. Ich habe noch niemals meinen Hunger mit einem Apfel gestillt. Ich hatte nie Hunger und dachte: “Ich habe Hunger. Ich esse einen apfel.”
Ich habe Äpfel nur gegessen, weil sie gut für einen sind. Nicht um mich über Wasser zu halten.
Jetzt esse ich Äpfel, weil sie billig sind und den Hunger ein bisschen stillen.
Und ich habe noch einen und mein persischer Chef hat ekelhaften Zwieback mitgebracht aus seiner Heimat.
“Hier. Marianne. Probier mal.”
Ich probiere und es schmeckt mir nicht, aber ich esse den Zwieback und er gibt mir noch ein zweites Packet.
Das Paket hole ich jetzt hervor und gebe es Carla.
“Hier.”
“Oh.” Ihre Augen strahlen. “Dankeschön.”
“Bitte.”, antworte ich. “Ich habe noch ein zweites Paket.”
“Das ist ja fast so gut wie Mittag.”, sagt Carla und packt das Päckchen aus. Auch sie verzieht ein bisschen den Mund. Aber es ist Essen.
Und heute gibt es richtiges Essen. Heute abend gibt es richtiges Essen.
“Ich habe zwei Äpfel.”, sage ich zu Carla und halte ihr meinen zweiten hin.
“Darf ich den echt haben?”, fragt sie.
“Ja.”
Mein Magen ist kleiner geworden. Ich esse nicht genug. Zwei Äpfel am Tag und dann eine Portion Spaghetti sind nicht genug für einen Magen, um gefüllt zu sein. Dann schrumpft er.
Mein geschrumpfter Magen braucht zwar auch ein bisscchen mehr als zwei Äpfel. Aber nicht so viel mehr.
“Dann muß ich mir keine Pommes mehr kaufen.”, sagt Carla und ich lächele ihr zu.
Sie beisst in ihren Apfel.
Den ganzen Tag über strahle ich in der Aussicht darauf später etwas richtiges zu essen. Sich satt zu essen. Kartoffeln und Gemüse und Truthan.
Schleppe mich vom Aquariumsjob nach Hause. Es ist Samstag.
Habe kein Geld für die nächsten Tage und deswegen habe ich auch keinen Wein mitgebracht. Ich habe nur mich.
Eine der Fosterschwestern von Ivette kommt nach unten.
“Wir brauchen Milch.”, sagt sie.
“Ich habe Milch.”, sage ich und bin froh, dass ich etwas beisteuern kann.
Ein halber Liter Milch steht im Kühlschrank. Die brauche ich zwar für den Morgen und für den Kaffee, aber nicht so dringend.
Ich kann auch ein paar Tage Kaffee ohne Milch trinken.
Meine Knie zittern ein wenig als ich nach oben zu Jocelyn gehe.
Es sind schon ein paar Leute da.
Betsy begrüsst mich mit Winkerei. Ich winke zurück und sehe den gewaltigen Vogel dort stehen. Der Vogell riecht gut.
Ich habe Hunger und sage:
“Ich habe Milch mitgebracht.”
“Dankeschön.”, sagt Betsy.
“Die brauchen wir für den Kartoffelbrei.”
Es gibt Kartoffelbrei und ich sehe Rosenkohl. Und ich sehe Süßkartoffeln.
Ich weiss nicht wo ich mich hinsetzen soll und setze mich an die Bar zu Jeremy und P.J.
und warte was da kommen möge.
“Wir wollte ja eigentlich früher essen. Aber jetzt essen wir später.”, sagt Jocelyn und ich stimme ihr zu.
Meine Augen fühlen sich hungrig an. Ich wusste nicht, dass Augen sich hungrig anfühlen können. Aber sie tun es.
Ich grüsse die anderen Menschen um mich herum. Nehme sie nur halb wahr.
Ich habe so einen Hunger wie ich ihn noch niemals gehabt habe.
Und ich bin zu stolz, um das zu sagen.
“Jetzt können wir essen.”, sagt Betsy und gibt mir einen Teller.
Ich sehe mir den Vogel an. Nehme Fleisch, nehme Gemüse, nehme Kartoffeln und nehme undefinierbares.
“Was ist das?”
“Das ist Süßkartoffelauflauf mit Marshmallows überbacken.”
“Klingt ekelhaft.”
“Aha.”
Die eine der Fosterschwestern schaut mich betreten an.
“Nein.Nein.Ich meine auf eine gute Weise ekelig. Ich habe noch nie von Marshmallowsüßkartoffelauflauf gehört...Aber ich finde die Idee grandios.”
“Aha.”
Sie guckt mich noch immer betreten an.
Ich lächele und sie lächelt zurück.
Es sind nicht genug Plätze vorhanden und ich setze mich auf den Fußboden und halte meinen Teller auf dem Schoß.
Ein prallgefüllter Teller. Voller Essen.
Meine Augen tränen.
Ich wusste nicht, dass Augen vor Hunger tränen können. Vielleicht hat das mit dem hungrig sein von ihnen zu tun.
Und ich denke an Knut Hamsuns Buch und ich weiss, dass ich noch nicht einmal eine Ahnung davon habe wie es sich wirklich anfühlt Hunger zu haben.
Ich habe nur ein bisschen Hunger. Aber gleich esse ich.
Und ich fange zäh an zu essen und schmecke nichts.
Es schmeckt nicht.
Der Kartoffelbrei ist nicht so wie der von meiner Mutter.
Das Fleisch schmeckt seltsam.
Der Rosenkohl ist hart.
Die Bratensoße ist eklig.
Die Füllung vom Truthan ist widerlich.
Ich fühle nichts. Ich esse zäh und langsam den ganzen Teller auf und stehe auf, um mir mehr Essen zu holen.
Noch ein bisschen Fleisch, noch ein bisschen Rosenkohl.
Als die eine der Fosterschwestern von Ivette aufsteht und sagt:
“Wir haben noch nicht Danke gesagt.”
“Stimmt.”, wird von allen Seiten laut.
“Ich will jetzt Danke sagen.”
und ich will essen, denke ich und konzentriere mich mit aller Kraft auf meinen Teller.
“Ich will Danke sagen dafür, dass ich hier bin. heute. Ich will Danke sagen für...”
Es geht Reihum.
Ich bin als nächstes dran, aber ich sage:
“Ich will nicht.” und ich will wirklich nicht. Ich will essen, obwohl es nicht schnmeckt und der Kartoffelbrei ganze Knoblauchzehen in sich trägt und nicht salzig genug ist.
Ich esse als Jeremy sagt: “Danke, dass ich in diesem Haus sein darf.”, was er nicht wirklich so meint. Was er nur sagt, weil er denkt, dass alle es gerne hören.
Ich esse, als P.J. sagt: “Danke, dass meine Freundin mich liebt und ich meine Freundin.”
und ich esse und höre auf mit dem essen und esse ein bisschen, als Betsy lang und breit – ohne den Blick von mir abzuwenden sagt:
“Danke. An diesem Tag. Danke, dass wir neue Menschen in unser Leben begrüssen und aufnehmen. Dankeschön, dass sie da sind. Danke... Danke... Danke...”, schwirrt es in meinem Kopf und ich werde rot, als sie abrupt den Kopf abwendet und Jocelyn ansieht und die zweite Liebeserklärung – dieses Mal an sie – loswird.
jetzt weiss jeder, dass sie in mich verliebt ist, denke ich. Jetzt weiss es jeder und Jocelyn weiss es ganz sicher.
Sie weiss es sowieso.
Und ich hatte mich gedrükt “Danke” zu sagen und eigentlich will ich nur
“Danke für das Essen” sagen und nicht “Danke Welt...” oder etwas pathetisches oder etwas emotionales oder etwas und so sage ich:
“Danke, dass ich hier sein darf und mit echten kanadischen Menschen Thanksgiving feiern darf.”
Mehr sage ich nicht und widme mich wieder meinem Essen und kann nicht weiter essen, weil Jocelyn jetzt dran ist
“Danke” zu sagen.
Und Jocelyn. Die zähe, toughe Jocelyn fängt mit zitternder Stimme an ihr Danke zu sagen.
Und es ist das letzte Thanksgiving im Triumph Haus. Und das Haus gehörte zwanzig Jahre ihr. Und jetzt ist es verkauft. Und am nächsten Donnerstag gehört es ihr nicht mehr.
Und ihr schießen Tränen aus den Augen, wie ich sie noch nie habe schießen sehen.
Und ich kann nicht mehr weiteressen.
Für ein paar Minuten.
Ich sehe sie mit meinen sich hungrig anfühlenden Augen an.
Dann esse ich weiter. Versuche das Loch im Magen zu stopfen.
Es gelingt mir mit dem warmen, guten, fantastischen, grandiosen Apfelkuchen von Ivette. Es gelingt mir mit dem Eiskuchen den ich auf dem guten, fantastischen, grandiosen Apfelkuchen von Ivette zerschmelzen lasse.
Mein Loch ist gestopft.
Ich habe keinen Hunger mehr und ich trinke ein Glas Wein und Betsy setzt sich neben mich und ich rücke ein Stückchen weiter weg und versuche ihr nicht auf ihre Oberweite zu starren, obwohl sie eine so große Oberweite hat, dass auch heterosexuelle Frauen darauf starren könnten.
Aber sie bemerkt, dass ich versuche nicht auf ihre Oberweite zu starren und wird verlegen.
Ich mache eine sechzigjährige Frau verlegen.
Vielleicht sehen meine Augen hungrig aus?
Ich gehe nach draußen und rauche ene Zigarette.
Simba kommt mit nach draußen.
Jocelyns Hund hat mich adoptiert. Ich weiss es und sie weiss es. Sie mag diesen Fakt nicht.
Jocelyn steht draussen und wir rauchen zusammen.
Sie raucht stinkende Zigarillos.
Ich sage was ich denke.
“Ich habe darüber nachgedacht, dass ich hier das erste Mal in meinem Leben frei bin. Vielleicht ist ja das mein eigentliches Problem. Das unterschiedliche Menschen auf unterschiedliche Weise mit Freiheit umgehen.”
Sie sieht mich an und sagt:
“Vielleicht ist das so. Ich habe mein erstes Haus gekauft als ich neunzehn war.”
Dann sagt sie: Entschuldigung. Ich muss mal weg.
Und verschwindet schnell im Haus.
An diesem Abend sieht sie keiner wieder.
Ich habe etwas falsches gesagt,
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