“Guten Tag, ich heisse Marianne und bin von der Qualitätskontrolle für die ...”

“Dass da drüben sind die Salespeople.”, sagt Desy zu mir und zieht ihre wohlmodulierten Augenbrauen nach oben. Verächtlich und subtil.
Ich schaue herüber.
Da drüben sitzen die Salespeople, die sieben Stunden am Tag mit zumeist alten und älteren Menschen telefonieren und sie davon überzeugen ein Ticket für El Gordo oder El Nino oder für die Europäische Millionenziehung zu kaufen.
Da drüben sitzen die Salespeople, die sich nicht wirklich darum scheren, ob ein 89jähriger deutscher Rentner Altzheimer hat oder nicht. Ob er wirklich weiss, dass es sich um eine Lotterie handelt. Ob er wirklich weiss, worauf er sich einlässt.
“Manche sind fair.”, fügt Desy hinzu.

Die lateinamerikanische Mitvierzigerin wechselt sich mit Heidi, einer 32jährigen Frau ursprünglich aus El Salvador, ab mich einzuarbeiten.
Eine weitere Frau sitzt im kleinen Büro.
Marla aus Mauritius, die wegen ihrer beiden Söhne nach Vancouver gekommen ist. Die ihre Söhne nicht verlassen wollte und deswegen im jetzt kalten und regnerischen Vancouver festsitzt und der man von weitem ansieht, dass sie nichts lieber möchte, als ihre Zelte hier abzubrechen und sofort – stantepede- zurück auf die Trauminsel zu kehren.

Drei Frauen in dem kleinen Büro am Ende des Großraumbüro. Und ich dazwischen.
Werde in das System eingearbeitet und bin verwirrt von den ganzen Tasten die ich drücken muss.

Die Bestellungen flackern vor meinem Gesichtsfeld auf und dann wird nicht die Escapetaste gedrückt, um aus dem System herauszukommen, sondern die F3 Taste.
Und dann wird – für mich eine zufällig ausgesuchte Taste- die F5 Taste gedrückt, um die Details zur Bestellung anzusehen und die F10 Taste, um die Zahlungsdetails zu sehen.
Allerdings wird zweimal die F11 Taste gedrückt, um den Kunden anzurufen...
vorher muß jedoch noch die F1 Taste gedrückt und zwar gleichzeitig mit der Shifttaste – nur um danach die Shift F3 Taste zu drücken, um zu sehen, ob es tatsächlich die Nummer ist, die auch die Salespeople angerufen haben.
... Dann kann man wählen.
Zurück mit zweimal der F3 Taste, dann die F4 Taste und dann die F10 Taste.

Gleichzeitig habe ich ein Skript vor mir.
Eine Anleitung, was gesagt werden muss.
Muss.
Kein Raum für irgendeine Kreativität.
Kein Raum für Improvisation.
Kein Raum für Denkerei.
Vorlesen.

Sinngemäß sind es folgende Punkte, die abgehakt werden müssen:
Das Telefongespräch wird aufgezeichnet. Ist das okay?
Ihre Bestellung kostet ... Dollar und ihre Kreditkartennummer ist...
Ihre Adresse ist...
Es ist ein Glücksspiel und es ist gegen das Gesetz Gewinne zu garantieren.
Sinngemäß habe ich es nach einmaligem Lesen in meinem Schädel und doch lese ich es ab, da ich von der Vielfalt der niemals vorher benutzten F Tasten nachhaltig verwirrt bin.

Man hat sich als normal sterblicher Mensch doch des öfteren gefragt:
“Wozu sind die F Tasten eigentlich gut?”
So... nun weiss ich es.
Um mir die Hölle auf Erden zu bereiten.

An meinem ersten Tag arbeitet mich Heidi ein. Wenn sie nicht gerade Pause hat oder mit der Oberchefin Jan zur Westernunion zu fahren, um Geld abzuholen... und erst nach drei Stunden zurückkehrt...Dann “hilft” mir Desy.

Was schwierig ist, da beide nicht wirklich als – und das ist meine Berufsbezeichung für die nächsten Monate – ORDER VERIFIER gearbeitet haben, sondern in der tatsächlichen Qualitätskontrolle sitzen.

Ich merke, dass sie mir nicht strukturiert Dinge erklären, sondern eher von einem Detail zum nächsten springen. Eine Ausnahme nach der anderen wird mir erklärt, bevor ich das SYSTEM begriffen habe.
Das alles verwirrt mich nachhaltig, da ich noch immer nicht die F Tasten in meinem Schädel habe.

Meine ersten sechs Stunden plänkern vor sich hin. Das erste Telefonat wird nicht geführt, stattdessen arbeite ich das stümperhaft geschriebene Skript für die deutschen Order Verifier um, korrigiere es soweit, dass es eine tatsächliche Übersetzung des eigentlichen Textes darstellt.

An meinem zweiten Tag führe ich ein Gespräch...
Nicht ohne zunächst ein Rollenspiel mit Heidi zu führen, wobei sie NICHT einen Kunden spielt, bei dem alles schief geht, sondern einen besonders einfachen Kunden ...
Auf diese Weise bereitet sie mich also absolut perfekt darauf vor, was mich erwartet.

“Hello. Could I please speak with...”
Da es sich um eine private Angelegenheit handelt, darf immer nur mit der spielenden Person geredet werden.
“Why?”
“It is private...”
Ich habe keine Ahnung, was ich sagen soll und stottere vor mich hin.
Heidi nickt mir aufmunternd zu.

Wenn ich achzig Jahre alt wäre, seit vierzig Jahren mit meinem Ehemann verheiratet wäre und dann ruft da jemand an und sagt mir: Kann ich mit Deinem Ehemann sprechen? Nein. Ich darf nicht sagen worum es geht, würde mir das Herz in den Boden sacken.
Zumindestens für ein paar Sekunden ...

Nicht so diese Person.
“Then I don't want to speak with you.”, sagt sie kurz angebunden und legt auf.
Hmmm...
Naja...
Ich bin konsterniert und sehe Heidi an.
Soviel zu meinem ersten Telefonat, denke ich.

Doch Heidi wählt nocheinmal.
“Hallo. Wir haben gerade gesprochen. Spreche ich mit ...”
“Naja... Ja.”
“Ich rufe von der Qualitätskontrolle an, um den Auftrag den Sie mit ... abgeschlossen haben.”
“Ich habe nichts abgeschlossen...”

Zunächst ist das Gespräch auf holprigen Pfaden, doch schießlich rattert Heidi den Bogen herunter und als sie auflegt sagt sie zu mir:
“Ich habe eine Tür gehört. Als ob jemand gegangen ist und danach hat sie alles bestätigt.”
“Aha.”
“Das hat man öfter. Die Ehefrau spielt und der Mann weiß nichts davon. Deswegen auch IMMER” und Heidi guckt mich eindringlich an. “IMMER nur mit der spielenden Person reden.”
“Okay.”

“So...”, sagt Heidi zufrieden. “Jetzt hattest Du also jemanden der aufgelegt hat.”
“Hmmm...”
Ich denke, dass nicht ich, sondern sie diesen Auftrag bearbeitet hat, halte aber meinen Mund.
Blitzschnell drückt sie weitere F Tasten, die sie mir vorher nicht erklärt hatte und sagt:
“Ich habe gleichzeitig Shift F11 gedrückt, zweimal y gedrückt und auf diese Weise glech das Geld von der Kreditkarte abgezogen. Verstanden?”
“Hmmm...”

An meinem dritten Tag sagt Heidi:
“Ich habe Dich jetzt gut eingearbeitet. Nun kannst Du auch allein arbeiten.”
“Okay....”
Ich habe mittlerweile begriffen, dass ich mir so ziemlich alles selbst erklären und strukturieren muss und mir vor allen Dingen die verflixten F Tasten selbst erklären muss.
Das kann ich sowieso besser allein.

Und so sitze ich auf einem fremden Platz, werde unter Heidis Benutzernamen – der – nur um mich zusaätzlich zu verwirren nicht Benutzername sondern TAM heisst – eingeloggt.
“Nur solange bis Du deinen eigenen TAM hast.”
“Ja.”, sage ich verständnisvoll.

Nun sitze ich nicht mehr in dem kleinen Büro mit den drei Frauen, sondern in einem kleinen abgetrennt von den Salespeoplen Bereich zwischen Ned, der als Serbe auch Deutsch spricht und Daniela, die Spanisch spricht.

“Das ist jetzt alles verwirrend.”, sagt Ned. “Aber im Endeffekt ist es leicht. Ich schaffe das hier nur, weil ich Geld brauche und außerdem hat man Zeit für anderes. Ich bin Herausgeber der serbischen Zeitung in Vancouver.”
“Wow.”
“Ich war Journalist in Serbien.”
“Wow.”

Kanada geht mit einem jeden anders um.
Daniela rechts neben mir verdient sich hier ihr Geld für die Uni...
Und ich wurstele mich durch die F Tasten.
Versuche das System zu verstehen....
Der erste Tag draussen verfliegt nur so.
Der zweite Tag wird zäher werden...
Und am dritten Tag habe ich das System begriffen...

Ich rattere meinen Bogen herunter. Telefoniere mit Stuttgardt und Heidelberg. Mit London und mit Brighton. Telefoniere mit alten Leuten in Europa, die im Schnitt über achzig sind und frage mich, wie ich das auch nur ein paar Monate aushalten soll...
Schon jetzt....
Nach weniger als einer Woche weiß ich:
Es ist ein dummer, dummer, dummer, dummer Job.

Und auch die F Tasten machen es nicht besser, denn wenn man einmal weiss:

Erst F 12, dann F 10
Dann zweimal F3
Dann F 10, dann F 4
Dann zweimal F11
Dann einmal F3
und schließlich Shift F11 und zweimal Y

Ist alles gesagt...
Aber wenn ich etwas will, dann ist es:
durch Kanada zu reisen...
Im Frühling...
Und wenn ich etwas will, dann is es:
Dafür das Geld zu verdienen...

Es wird wohl nichts weiter passieren in den nächsten Monaten.
Nur:
“Hallo. Ich heisse Marianne. Kann ich bitte mit. .... sprechen?”

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