Aufbruch


Eine Freundin fährt mich zum Bahnhof, wo ich mein Ticket bei einem an höchstwahrscheinlich Parkinson erkrankten Mitarbeiter der Via Rail Canada erwerbe.
Der Verkäufer ist so langsam wie ein unkündbarer deutscher Beamter und treibt mich an den Rand zur Weißglut.
Mit meinem Canrailpass in der Tasche geht es nach Downtown und wir landen in einem Cafe direkt am Wasser. Ecke Thurlow und Pender und mir wird noch ein Muffin und ein Kaffee ausgegeben. Meine stehende Einladung wird ausgeschlagen. Ich werde stattdessen des Cafes verwiesen und reserviere zwei Plätze für uns.
Mir kommen die Tränen, doch als der Kaffee kommt, habe ich sie schon heruntergeschluckt. Bin auf einmal so traurig. Will nicht gehen.
Und dann ist es kein grosses “Adieu”, sondern ein simples “Tschüss”. Wir sind beide nicht gut im Abschiednehmen. Warum auch...

Der Looser Schauspieler aus Dawsons Creek, dessen Name ich einmal wusste, aber wieder vergessen habe, kommt mir entgegen und erklärt seiner Freundin, dass die Hochhäuser so aussehen, als eien sie mit Spucke glänzend poliert worden.
Ich finde diesen Satz – der vermutlich das Einzige ist, was ich jemals von ihm persönlich höre – auf unspektakuläre Weise bemerkenswert.
Und sitze dann am Wasser. Nahe english Bay. Versuche zu rekapitulieren. Sehe Vancouver im Frühling und im prallen Sonnenschein.
So oft ich die Stadt gehasst habe, ich mich nicht angenommen – in meiner europäischen Art unverstanden gefühlt habe – sie hat mich. Vancouver hat mein Herz am Haken.
Ich rauche eine Zigarette sitze im Sonnenschein und bin traurig und zwischen den Stühlen.
Dann wandele ich ziellos durch Vancouver downtown und habe irrwitzigerweise den Plan noch Schuhe zu kaufen. Im Pacific Center und bei Sears werde ich nicht fündig und so gehe ich die Granville – die ich in den vergangenen 11 Monaten nur als Bausstelle kennenlernen durft und gehe in den Schuhdiscountladen.
Orientierungslos, unglücklich und in unerträglicher Warteposition probiere ich Schuhe an. Meine Schuhe habe Löcher dort wo die großen Zehen an die Schuhoberfläche stoßen. Das sieht nicht gut aus. So kann man nicht reisen.
“Hast du diese Schuhe hier auch in Größe 9?”, frage ich.
“Ich glaube nein. Ich guck mal. Aber probier sie doch einfach mal in 8,5 an.”
“Okay.”
Ich probiere die Schuhe an, sie passen, sie wackeln, sie haben Platz.
“Ich brauche Schuhe. Ich fahre heute weit weg.”, sage ich zur Erklärung und aus einer vollkommen anderen Wirklichkeit heraus zu der Verkäuferin, die etwa 20 ist und ziemlich dämlich aussieht. Sie antwortet mir aber auf meine Aussage, die keine Antwort verlangte:
“Diese Schuhe sind gut. Es sind gute Schuhe, wenn man weit wegfährt.”
“Ja?”
“Ja. Probier doch mal beide an. Es ist gut zu wissen, ob alles okay ist, wenn man so eine weite Reise wie du hast.”
“Stimmt.”, sage ich und bin dann doch ein wenig verwirrt.
“Weisst du wohin ich fahre?”
“Nein. Aber du hast doch gesagt weit weg. Das reicht.”
“Stimmt.”, sage ich und dann “Gekauft. Ich kaufe die Schuhe. Muss ich sie jetzt wieder ausziehen?”
“Ja.”
“Gut.”
Ich ziehe meine neuen Schuhe aus und meine alten an und sage der Verkäuferin noch zweimal, dass ich – obwohl ich, wenn ich ein zweites Paar Schuhe kaufen würde 50 Prozent Rabatt bekommen würde – kein zweites Paar kaufen will. Das versteht sie nicht so ganz. Aber nunja. Ich erwarte auch kein Verständnis. Und kein Mitgefühl.
Dass ich am Rande zum Nervenzusammenbruch stehe wird mir klar, als sie mich mit leeren Augen und einem Stempel in der Hand mustert und sagt:
“Und weil du ja heute die Stadt verlässt, ist das hier ein FINAL SALE”.”
Sie stempelt meine Rechnung, worauf jetzt Final Sale aufgedruckt ist und ich bin den Tränen nahe.
Ich wanke hinaus und gehe schnurstracks zur Skytrainstation “Granville” und fahre Heim.
Bald bin ich dort und mein mir angestammter Platz auf dem Sofa im Wintergarten ist von dem unsympatischen und oben unbekleideten Freund meines Mitbewohners okkupiert. Sein dämlicher kleiner Köter Storm bellt mich an, woraufhin ich dem dämlichen kleinen Köter laut, nachdrücklich und mehrere Male sage: “Heute ist der letzte Tag. Dann bist du mich los.” und denke: dem weine ich keine einzige Träne nach.
Der Freund meines Mitbewohners hängt in unserer Wohnung ab und ich freue mich, dass ich seine Visage bald nicht mehr sehen muß. Und “JA” es ist eine Visage und kein Gesicht. Wir verabschieden uns noch nicht einmal mit einem Händeschütteln. Wir mögen uns nicht. Er sagt: “Gute Reise” und dann “See you later. Ach nein. Ich sehe dich ja später nicht. Also bis dann!”
Gegen drei am Nachmittag habe noch immer nur den einen Muffin gegessen und als ich mir Kippen im Blumenladen ums Eck kaufe, kaufe ich mir außerdem ein Erdbeereis. Laut lage ich zu mir: “Jetzt freu dich doch endlich. Du machst eine Reise, um die dich andere beneiden!”
Aber ich bin eher panisch, kann nichts essen, kann nichts trinken, kann nur Rauchen und meine beste schlägt sich die dänische Nacht um die Ohren, um mir mein letztes Geleit zu geben. Ich weine schon jetzt um Vancouver, weine um das Lebewohl.
Ich schmiere mir zwei Brote für die 20stündige Zugfahrt nach Jasper.
Ist mein Koffer zu schwer? Habe ich alles? Warum kann ich nicht jetzt schon zuhause sein? Warum muß ich das hier tun? Kann ich noch umbuchen und gleich nen Flieger in die Heimat nehmen?
Irgendwann reisse ich mich zusammen und mache mich mit einem letzten “Adieu!” mit meinem Zebramusterrollkoffer auf in die kanadische weite Welt, die da bedeutet: Skytrainstation: Mainstreet, Scienceworld zum Pacific Central.
Mein Koffer verfügt über kein Namensschild, was ich noch anbringe und dann war es das auch schon und ich gehe auf den Bahnhofsvorplatz um das zu tun, was ich schon den ganzen Tag getan habe: Eine Kippe nach der anderen zu rauchen.
Zwillinge umtanzen das schwarze Tulpenbeet. Tatsächlich.
Zwei identisch aussehende und vermutlich autistische junge Männer um die 20 umkreisen das Tulpenbeet, ws in der Mitte des Vorplatzes angepflanzt wurde, singen dazu, machen Ausfallschritte, biegen ihre leicht dicklichen Körper dazu. Beide haben jeweils einen Bleistift in der Hand, den sie zwischen Daumen und Zeigefinger in unterschiedlichen Tempi hin und her schwingen lassen.
Manche Passanten geraten in ihre Umlaufbahnen und finden nicht schnell genug heraus. Sie werden dann zwangsweise angestoßen, angerempelt, zurück verwiesen auf ihren Platz im Erdenreich.
Nur besondere Menschen verfügen über das geheime Wissen wo, wie und wann welche Schritte und Tanzbewegungen angemessen sind.
Ich setze mich neben den jungen Betreuer, welcher mir auf französisch erklärt, dass er aus MOREAL kommt und ich bin froh, dass ich schon weiß, dass einheimische Montreal MOREAL nennen.
Wir radebrechen ein wenig und ich verstehe soweit, dass er ein soziales Jahr macht und auf die Jungs aufpasst. Quasi der Begleiter um die Eltern zu entlasten. Und genau diese Eltern der Jungs kommen auf mich zu.
Der Vater, der bei der kanadischen Bahn arbeitet, erklärt mir ausführlich – während seine Jungs uns umtanzen – die Nachteile der kanadischen Bahn.
Alte Züge, zu wenige Passagiere, zu teuer, zu unbedeutend.
Ich höre nur mit halbem Ohr zu und bin froh als die fünf in dem Bahnhof verschwinden.

Ich zünde mir noch eine Zigarette – die letzte in Vancouver – an und bin wieder an der Schwelle zu einem Tränenkrampf, als ein grinsender um die 30jähriger Südamerikaner auf mich zukommt. Er setzt sich neben mich, beugt seinen Kopf ein wenig vor uns sagt:
“Ich hab da nen Vorschlag.”
“Och nee...”, unterbreche ich ihn.
“Also ich habe da 5 Tickets für den Bus. Sie muss ich loswerden. Ich geb sie dir für die Hälfte.”
Ich grinse ihn an: “Ich verlasse heute die Stadt.”
“OH Nein.”, lacht er. “Wohin denn?”
“Halifax.”
“Cool”, antwortet er. “Wie cool.” Er macht eine Pause “Also mein letzter Vorschlag ist...”
Ich schüttele nur lächelnd den Kopf. Und er schüttelt den seinen
“Also irgendjemand muss sie doch kaufen wollen!”
“Bestimmt irgendwer.”, sage ich und lächele ihn an.
Er steht unvermittelt auf und geht Richtung Skytrain. Und er dreht sich noch einmal halb um und ruft: “Viel Glück!”

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